Chez Haaze

Jens-Philipp Gründler für #kkl42 „Selbstachtung“




Chez Haaze

In ihrem Nachtclub war wieder viel los gewesen, doch an Schlaf und Erholung war für Toni nicht zu denken. Im Chez Haaze hatten sich bereits die Reinigungskräfte eingefunden und damit begonnen, die Spuren der wilden Partynacht zu beseitigen. Viel lieber würde Toni mit David im Bett liegen und ihm einen Kuss auf die spitze Nase geben, aber auch er hatte sich schon wieder seiner Arbeit gewidmet und feilte in den Hansa-Studios an seinem neuen Album, das als erster Teil der Berlin-Trilogie in die Geschichte eingehen sollte. Obwohl Toni Haaze und David, wie alle ihre Freundinnen und Bekannten exzessiv feierten und nicht selten harte Drogen konsumierten, arbeiteten sie eben so gnadenlos an ihren künstlerischen Karrieren. Toni und David hatten sich 1976 im Chez Haaze kennen- und lieben gelernt. Das war, bevor Toni in der Schweiz die Geschlechtsangleichung vornehmen ließ. Für Zwitterwesen wie Toni, die damals noch mit diesem an die Antike gemahnenden Begriff bezeichnet wurden, kamen wenige vermeintlich seriöse Berufe in Frage. Insbesondere, wenn sie selbstbewusst auftraten und sich offen zu ihrem von der gesellschaftlich vorgegebenen Norm abweichenden Geschlecht bekannten. Viele Transfrauen und -männer jobbten im Nachtleben, nicht selten prostituierten sie sich. Toni Haaze hatte bereits als Kind in einem Zirkus gearbeitet und Revuen präsentiert, sich dann aber auf ihre Bühnenkarriere als Sängerin und Schauspielerin konzentriert. Das West-Berlin der späten 1970ern lockte viele Künstlerinnen, Musiker, Malerinnen und Poeten an. Darunter befanden sich auch Weltstars, wie David und seine Kumpels Iggy und Lou. Hier konnten sie mehr oder weniger unbehelligt leben und arbeiten. Die kreative Energie schoss über und normativ-heterosexuelle Grenzziehungen verschwammen unter dem Auge eines bunten Kaleidoskops der Vielfalt. Ob jemand Frau, Mann, Trans oder was auch immer war, spielte in den Kreisen jener Avantgarde keine Rolle.

David hatte zuletzt das vom Kokain-Abusus geschwängerte Album Station to Station herausgebracht, und sich dann dazu entschlossen, nach Berlin zu gehen, wo er einen kalten Entzug machte. Edgar, ein befreundeter Krautrock-Pionier, Musiker, Komponist und Gründer der Band Tangerine Dream, stellte ihm hierfür ein Zimmer zur Verfügung, in das sich David für mehrere Tage einschloss.

Als Toni ihm zum ersten Mal begegnete, war ihr gar nicht klar, dass es sich um das glamouröse Popchamäleon handelte, wie die Presse ihn nannte. Denn David hatte den Arbeiterlook für sich entdeckt, trug Schnauzbart, Jeans sowie karierte Working-Class-Hemden. Er verzichtete zwar auf das weiße Pulver, trank aber literweise König Pilsener. Nicht nur einmal musste Toni ihren Geliebten am Gürtel festhalten, damit dieser sich übergeben konnte, in einen Gully hinter dem Nachtclub.

In den legendären Hansa-Studios, von David The hall by the wall genannt, vollendete er sein Meisterwerk Low, welches 1977 veröffentlicht wurde. Bevor es auf Deutschlandtournee ging, hatte das Paar Zeit füreinander, da sich Toni eine Auszeit von ihrem Club nahm. Sie planten einen kurzen Urlaub.

Schon lange hatte Toni Haaze den Wunsch gehegt und auch formuliert, eine Genitaloperation vornehmen zu lassen.

„In der Schweiz ist es möglich“, erklärte sie David.

„Ich habe gehört, das sei sehr gefährlich“, entgegnete er ihr und führte aus, dass er sich um sie sorge.

Toni, die vor ihrem ausladenden Schminktisch saß, den David in seiner Schöneberger Siebenzimmer-Wohnung aufstellen lassen hatte, schwärzte sich die Wimpern, trug ein ins Dunkelrot spielendes Rouge auf und fuhr mit einem Lippenstift über den Mund. Dann sagte sie:

„Mein Liebster, begleite mich in die Schweiz.“

Der operative Eingriff glückte und Toni konnte sich endlich ganz als Frau fühlen. David ging nach New York City, wo er ein somalisches Model heiratete und noch einmal Vater wurde.

***

Bis zu seinem frühen Tod im Jahre 2016 blieben der unermüdlich produktive Musiker und Toni Haaze in engem Kontakt. Für beide Künstler gilt, dass sie bis zum heutigen Tage als Vorbilder für queere Menschen fungieren, aber keinesfalls ausschließlich. David hatte immer wieder Alter Egos kreiert, Bühnenfiguren, die konventionelle Geschlechtergrenzen ad absurdum führten und denjenigen einen Spiegel vorhielten, die kein Gespür für die Magie eines Lebens im Dazwischen haben. Natürlich hat auch Toni einen Status als Vorreiterin inne, gibt sie mithilfe ihres eigenen Beispiels doch jungen Leuten Hoffnung, die eine eindeutige Geschlechtlichkeit zurückweisen.

Allerdings symbolisiert Toni Haaze einen durch und durch differenzierten Freiheitsbegriff. Eine Zeitlang, bevor die sexuelle Liaison zu David endete, weil er sich in eine andere Frau verliebte, setzte sich Toni auf politischem Wege, als eine der frühen Aktivistinnen, dafür ein, dass junge Menschen intensiv über diesen sehr endgültigen Schritt nachdenken, den sie selbst gegangen ist. Auch wenn Toni medial gern als Ikone der Schwulen-, Lesben-, Transgender- und der Gemeinde der Non-Binären dargestellt wurde, bis sie sich von dieser ungeliebten Rolle distanzierte und sich aus der Öffentlichkeit zurückzog, steht sie für ein eher konservatives Weltbild. Eindringlich warnte sie bereits vor dreißig Jahren vor den Gefahren des chirurgischen Eingriffs, der in ihrem Falle zwar erfolgreich verlief. Toni betont dennoch, dass ein hoher Anteil unter den Operierten nie wieder sexuelle Erregung zu erfahren vermag, obwohl viele Ärztinnen und Mediziner, die auf diesem Sektor tätig sind, das Gegenteil behaupten. Des Weiteren, und mit diesem Statement machte sich Toni besonders unbeliebt in entsprechenden Kreisen, gibt es eine Vielzahl von sehr jungen Menschen, die eine Genitalangleichung vornehmen lässt, dies aber irgendwann bedauert. Dass es dann aber zu spät ist, muss nicht extra herausgestellt werden. Toni bereute ihre eigene OP nie, war sich aber auch stets bewusst, dass sie niemals eine echte Frau sein würde. Sie war, was sie ist. Und sie ist, was sie war. Kontroverse Positionen, wie die der Bestsellerautorin und Schöpferin der Harry Potter-Romane J.K. Rowling, die es für notwendig hielt klarzustellen, dass es lediglich zwei Geschlechter, Mann und Frau, gebe, akzeptiert Toni ebenso wenig wie das radikale Vorgehen der Sprachpolizei, die jeden ins Visier nimmt, der nicht gendert und jede attackiert, die diesbezüglich ein Verbrechen an der Sprache attestiert. Darüber hinaus kritisierten Künstlerinnen, wie die in queeren Kreisen äußerst beliebte irische Sängerin Róisín Murphy, die in ihren Augen verfrühte und damit unverantwortliche Verabreichung von Pubertätsblockern bei Kindern. Murphy, selbst Mutter, wies darauf hin, dass ein Teenager in der Regel nicht in der Lage sei, eine derart folgenschwere Entscheidung zu treffen. Medizinern, die sich dem Hippokratischen Eid verschrieben haben, warf sie Unverantwortlichkeit, Fahrlässigkeit, ja sogar Körperverletzung vor. Dafür wurde die Irin von der Presse so heftig angegangen, dass sie sich entschuldigte und erklärte, dass in jedem konkreten Fall individuell entschieden werden müsse.

Dass diese neuentdeckte, mit dem Wunsch auf schnellstmögliche – operative – Änderung einhergehende Bekenntnis zur Zwischengeschlechtlichkeit einen Trend darstellt, scheint für entschlossene Kämpferinnen, wie Toni Haaze unbestritten. Der Verdacht allerdings, dass es sich um einen Modetrend handelt, bei dem Kinder ihr Geschlecht modifizieren lassen wie eine Haarfrisur, drängte sich nicht nur Toni auf. Tatsächlich äußern immer mehr Pubertierende, und auch Kinder, ihren Eindruck, im falschen Körper zu leben. Oftmals, und das muss ebenfalls hervorgehoben werden, handelt es sich hierbei um ein pubertäres Phänomen, das vorübergeht. Wer darf also darüber entscheiden, ob eine Operation vorgenommen werden soll, oder nicht? Toni Haaze, die in ihren Vorträgen über jenen Gewissenskonflikt referierte, deutete an, dass den Fachärzten nicht ausnahmslos vertraut werden dürfe und dass Pubertierende im Grunde selbst entscheiden müssten. Die damit einhergehenden Komplikationen, auf körperlichem und seelischem Wege, müssten in Kauf genommen werden. Das sei leider nicht zu verhindern.      

In den späten 1990ern, kurz vor der Jahrtausendwende, verkaufte Toni das Chez Haaze und war noch über anderthalb Dekaden als umstrittene, polarisierende Aktivistin unterwegs, bis die Anfeindungen, der kalte Hass, der ihr entgegenschlug, so unerträglich wurden, dass Toni der Öffentlichkeit den Rücken zukehrte. Heute lebt die als Edouard Fernand Faverieux in Rouen Geborene zurückgezogen in ihrem Heimatort in der Normandie.

David vollendete vor seinem Tod noch ein Musical, das zu einem Welterfolg wurde. Sein Leichnam wurde auf seinen Wunsch hin gemäß einem buddhistischen Zeremoniell verbrannt und am Strand von Bali, seiner bevorzugten Insel, verstreut.

Die Strahlkraft eines der schillerndsten Paare des Berlins des letzten Jahrhunderts dauert an. Und Toni ist jedes Mal stolz, wenn sie junge Menschen auf der Straße sieht, die T-Shirts mit dem Aufdruck Chez Haaze tragen, ist der legendäre Club doch zu einem Symbol für Freiheit, Liebe und Toleranz geworden.     




Jens-Philipp Gründler, geboren 1977 in Bielefeld, studierte in Münster Philosophie und ist seit 2007 als freier Schriftsteller tätig. 2015 erschien der Erzählband „Glaspyramide“ und kurz darauf ein weiterer Band mit Erzählungen sowie ein Roman. Seit 2016 gehört er der Redaktion des Literaturmagazins „Experimenta“ an. In den Jahren 2021 und 2022 kamen ein Roman, „Einst gemarterte Heilige“, und die Kurzgeschichtensammlungen „Alles steht still“ und „Das Schweigen der Gedanken“ auf den Buchmarkt. In Bälde wird der illustrierte Erzählband „Nachtumweht“ publiziert werden.     

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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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