Bernhard Horwatitsch für #kkl44 „Kosmos“
Eybikeyt
„Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen.
Mein sind die Jahre nicht, die etwa mögen kommen.
Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in Acht,
so ist der mein, der Zeit und Ewigkeit gemacht.“
Der Raum ist riesig. Die Kuppel über mir, etwas zwanzig Meter hoch, weiß, ohne Verzierungen, einfach weiß. Wie groß der Raum ist, kann ich nicht sagen, denn ich kann kein Ende sehen, in keiner Richtung. Der Raum ist damit größer als mein Sichtfeld. Ich vermute, dass ich gerade träume. Es gibt solche Träume die sehr realistisch wirken. Oft weiß man gar nicht, dass man träumt und hält all die Ereignisse gegen die Naturgesetze für ganz normal. Ich fühle mich normal, fühle nicht, dass ich träume, vermute es nur. Meine Erinnerungen sind zwar da, aber zugleich auch nicht. Ich denke, wenn ich wollte, könnte ich mich erinnern. Ich tue es nicht.
Da der Raum größer ist, als mein Sichtfeld, teile ich ihn ein. Willkürlich. Wenn es ein Traum ist, ist es mein Traum und ich kann tun und lassen, was ich will. Also sage ich, vor mir liegt der Norden, hinter mir der Süden, links der Westen und rechts von mir der Osten. Weder Sonne, noch Kompass bestätigen meine Einteilung. Aber ich sollte doch in eine Richtung gehen. Da ich nun vor mir den Norden habe, gehe ich in diese Richtung. Doch dann stoppe ich. Warum Richtung Norden? Ich sollte Richtung Westen gehen. Aus einem, vermutlich dem Traum inhärenten Gefühlswissen, bin ich der Auffassung, dass meine Entscheidung nach Westen zu gehen, klüger wäre. Ich drehe mich um 90° nach links. Nun liegt der Westen vor mir und der Osten hinter mir. Der Süden links und der Norden rechts. Ich gehe wieder los.
Wie lange ich inzwischen gegangen bin, kann ich nicht sagen. Vermutlich sollte ich bald aufwachen. Ich schlafe, wenn es denn ein Traum ist, schon sehr lange, glaube ich. Ein sicheres Zeitgefühl habe ich in diesem endlos scheinenden Raum nicht. Erschöpfung von meinen inzwischen sehr langen Marsch gen Westen, fühle ich auch nicht. Aber ich könnte die Schritte zählen und so ein Zeitgefühl entwickeln. Also beginne ich die Schritte zu zählen.
Nach etwa 50.000 Schritten stoppe ich. Denn das entspricht meiner Rechnung nach in etwa meiner Schlafdauer. Ich sollte also wieder aufwachen. Aber man kann in Träumen nicht von einer Zeit sprechen. Ewigkeiten lassen sich in einen sehr kurzen Traum packen. Wie lange ist ein Traum? Selten länger als eine Stunde. Ich habe in einer Stunde schon ein ganzes Leben geträumt. 50.000 Schritte könnte ich auch in zehn Minuten träumen.
Der Raum ist unverändert. Die weiße Kuppel über mir. Der Raum selbst ist immer noch endlos und verliert sich vor meinen Augen im Nichts. Ich blicke an mir herab. Der Boden ist so weiß wie die Kuppel über mir. Nicht die geringsten Strukturen sind sichtbar, einfach ein perfektes Weiß über mir und ein perfektes Weiß unter mir. Ich trage dazu meine weißen Turnschuhe. Requisit meines echten Lebens. Wobei mir diese Odyssee nicht unecht erscheint. Nach wie vor ist es von mir nur eine abstrakte Vermutung, dass ich träume. Da ich nun so lange gegangen bin, sollte ich mich hinlegen und versuchen zu schlafen. Vielleicht wache ich dann auf? Der Boden ist weder hart noch weich, weder kalt noch warm. Ich kann ihn fühlen auf meinem Rücken, auf meinen Schultern, wie jeden anderen Boden. Nur ist es ein Boden ohne die geringste Eigenschaft. Ich bin nicht müde, daher fällt es mir schwer, einzuschlafen. Ich liege und starre auf die weiße Kuppel, angestrengt versuche ich in der Kuppel Strukturen zu entdecken, vielleicht einen winzigen Spalt oder Riss, eine Erhebung, sei sie noch so klein. Aber trotz größter Anstrengung zu sehen, nichts. Reines Weiß. Zwanzig Meter über mir. Eine Schätzung. Aber recht realistisch, auch wenn die Schätzung nicht auf den Meter genau ist, immerhin gibt es diese Decke und den Boden. Ansonsten gibt es hier nichts. Ich atme, zähle rückwärts, das hilft mir manchmal beim Einschlafen. Und tatsächlich…
Als ich wieder aufwache, bin ich wieder in diesem endlosen Raum. Ich glaube, etwas geträumt zu haben, Ich war mit meiner Mutter in einem Gartencafe, traf mich am Abend mit Freunden. Etwas verschwommene Erinnerungen, aber sie sind insgesamt konsistent. Es waren keine Träume. Also träume ich jetzt wieder den gleichen Traum als Fortsetzung von letzter Nacht? Ich stehe auf, habe weder Hunger noch Durst. Der Mund ist etwas trocken, aber nicht unangenehm.
Ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte mir vor dem Einschlafen die Richtungen markieren müssen. Aber ich habe keinen Stift dabei, um auf dem weißen Boden Markierungen anzubringen. Ich habe lediglich meine Kleidung am Leib, sonst nichts. Weiße Turnschuhe, schwarze Socken, eine weiße Hose, die ich noch von der Pflege habe, und ein schwarzes T-Shirt. Ich bin ganz ich dabei. Die Normalität ist irritierend.
Nach einer Woche in diesem endlosen Raum scheint sich in mir etwas zu verändern. Mehr und mehr wird dieser Raum in dem ich, soweit ich es selbst bestimmen kann, versuche immer gen Westen zu gehen, mehr und mehr wird dieser Raum zu meiner Realität und meine Realität zu Träumen. Es ist ein Prozess und zugleich auch eine Entscheidung. Was fühlt sich realer an? Rein logisch muss es sich hier in diesem endlosen Raum um einen Traum handeln. Denn ich bin hier der einzige Mensch, es ist auch sonst nichts hier. Ich habe hier seit über einer Woche nichts gegessen oder getrunken. Daher trinke und esse ich wohl in meinen Träumen. Meine Freunde, meine Sorgen, mein ganzes Glück, all das liegt in den Träumen. Hier in der Realität ist nichts. Ich bin über eine Woche gegangen und der Raum hat sich nicht verändert. Es könnte sein, dass ich im Kreis gegangen bin, oder im Zick-Zack. Denn ich kann mich immer nur orientieren, wenn ich wach bin oder träume und eine Richtung einschlagen. Nach dem Schlafen fängt es wieder von vorne an. Da es nichts gibt, außer dem endlosen Raum und mich, verändere ich mich langsam. Ich fühle mich zentrierter. Weder Bücher noch andere Menschen lenken mich ab. Ich rede laut vor mich hin, zitiere alte Texte oder singe Lieder. Wenn man das alles nur selbst hört, erscheint es noch wirklicher.
Ich beschließe, nicht mehr zu schlafen. Das fällt mir nicht schwer, da ich nie müde bin, mich eher zum Schlafen zwingen muss. Daher kann ich nun immer in eine Richtung gehen.
Ich habe aufgehört, die Schritte zu zählen. Daher weiß ich nicht, wie viel Zeit vergangen sein könnte, seit ich nicht mehr schlafe. Wochen, Monate, Jahre? Der Raum ist unverändert. Ich bin unverändert. Die Erinnerungen verblassen mit jedem Schritt mehr. Und ich kann weiter sehen, als je zuvor. Ich habe aufgehört zu reden und zu singen. Die Texte gingen mit jedem meiner Schritte von mir weg. Als alles weg war, empfand ich aber keinerlei Verlust, sondern ging noch leichter, noch beschwingter in die Richtung, in die ich immer gehen will.
Ich gehe einfach weiter. Ich habe keine Hoffnung auf Veränderung. Ja, ich will nicht mehr, dass sich hier etwas verändert. Ich habe, so kommt es mir jetzt vor, mein Ziel gefunden. Ich gehe, im endlosen Raum, durch das Nichts und bin über alle Maßen glücklich. Denn, so kommt es mir nun vor, bin ich nicht im Raum, sondern der Raum selbst in dem ich gehe. Mein Denken und mein Sein wurden identisch. Ich bin der Raum in dem ich selbst gehe. So also, ist die Ewigkeit! Sie ist absolut.
Bernhard Horwatitsch, *1964, München, Dozent für Recht, Ethik und Literaturgeschichte, hat bereits in zahlreichen Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht. Letzter Roman »Das Herz der Dings«, www.mabuse-verlag.de
Akrobat für Gedankenspiele, regelmäßiger Autor im Philosophie-Magazin Lichtwolf (Freiburg) und der Edition Schreibkraft (Graz),
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