Fabienne Schärer für #kkl44 „Kosmos“
DAS WUNDER DER EINSAMKEIT
Etenia, eine Sucherin, die oft bekümmert war und doch nicht genau wusste, wonach sie sich sehnte, begab sich eines Tages im Frühsommer auf einen Spaziergang. Angenehme Wärme erfüllte die Luft und die junge Frau folgte einem schmalen Pfad durch den Wald. Tief nahm sie den Duft des warmen Gehölzes in sich auf, während sie mit gemächlichen Schritten wanderte. Doch irgendwann holten sie ihre trüben Gedanken wieder ein, heimtückisch wie ein Rudel schleichender Wölfe. Dabei hatte sie nicht bemerkt, dass sich der Weg längst zwischen den Wurzeln im dunklen Boden verloren hatte. Erst nach einer Stunde, stockte sie verwundert. Abgesehen von den hohen Stämmen, der weichen Erde und einigen moosbewachsenen Steinen befand sich nichts anderes um sie herum. Plötzlich überfiel sie ein Gefühl der Einsamkeit, und Angst kroch in ihr Herz. Hatte sie sich verirrt? Gedanken wirbelten in ihrem Verstand umher wie trockene Blätter im Herbstwind. Verzweifelt musste sie einen leisen Schrei unterdrücken, während ihr Herz heftig schlug. Aufmerksam versuchte sie die Umgebung mit ihrem Blick zu durchkämmen, bis sie schließlich inne hielt und ihre Augen zusammen kniff. Nicht allzu weit entfernt, meinte sie hinter einer Reihe von Baumstämmen eine Wasserfläche zu erkennen. Sofort steuerte sie auf die Stelle zu und ein paar Schritte später blieb sie staunend stehen. Vor ihr erstreckte sich ein Teich, auf dessen Oberfläche Seerosenblätter gleiteten, als wäre es ihre Mission, die Reinheit des Wassers zu bewahren. Sonnenstrahlen, die blasses Licht durch die Kronen der umliegenden Bäume sandten, erfüllten den Ort mit einer Friedlichkeit, die das Herz der jungen Spaziergängerin berührte. Ehrfürchtig setzte sie sich ans Ufer des stillen Gewässers. Hier konnte sie alles vergessen, was ihr Kummer und Sorge bereitete. Diese Umgebung ließ sie einfach existieren und ein selbstverständlicher Teil davon sein. Eine ungeahnt tiefe Empfindung durchströmte sie, und eine Stimme drang aus ihrem Innersten hervor, die ihr zuflüsterte, dass jeder Augenblick, in dem nichts außer bedingungsloser Liebe bestand, ein Abbild der Ewigkeit war. Erst jetzt entdeckte sie mitten im Teich eine Seerose, deren weiße Blütenblätter sanft leuchteten. Zwischen all den schwimmenden Blättern verkörperte sie die einzige Blume auf dem ungetrübten Quell. Etenia schien in ihrer Verlassenheit eine Gefährtin gefunden zu haben – eine, die ihr zeigte, dass in der Einsamkeit eine ungeahnte Fülle lag. Man musste nur den Mut aufbringen, sie zu erkunden, indem man tiefer in die Geheimnisse des Seins einzutauchen wagte. Während diese Erkenntnis in Etenias Bewusstsein sank, begann sich die Seerose ganz behutsam zu drehen und wirkte wie eine weise Königin, die über ihr stilles Reich herrschte – beschützt von anmutig hohen Wächtern und getragen von einer tiefklaren Bewusstheit. Als ginge von der Blüte eine subtile Kommunikation aus, wurde Etenia daran erinnert, dass in ihr selbst eine Quelle der Weisheit und Güte ruhte. Endlich wurde ihr bewusst, wonach sie seit langem gesucht hatte! Kaum hatte sie dies gedacht, erblickte sie hinter dem Teich, wie das Licht der einfallenden Sonnenstrahlen einen Weg freigab. Und bald darauf befand sie sich wieder in der vertrauten Landschaft ihrer Heimat.
Nach diesem wundersamen Erlebnis kannte Etenia keinen Trübsinn mehr. Ebenso bemühte sie sich unentwegt, nicht zu vergessen, was die Seerose sie gelehrt hatte. Sie fühlte sich auch nie mehr allein, denn sie wusste, dass die Fülle des ganzen Universums bei ihr war, zu jeder Zeit, in allem.
Fabienne Schärer ist 1967 in Basel geboren. Im Alter von elf Jahren entdeckte sie ihre Freude am Schreiben und verfasste ihre erste Erzählung. Später folgten Gedichte, ein paar Kurzgeschichten, und vor rund achtzehn Jahren veröffentlichte sie zwei Kurzromane. Während sie sich lange Zeit dem Musizieren widmete, absolvierte sie auch eine klassische Gesangsausbildung, die ihr Interesse am Kunstlied weckte und ihre Liebe zur Lyrik neu belebte. Nach einer krankheitsbedingten Pause und einer Phase, in der sie sich der Pflanzenfotografie widmete, kehrte sie zur Poesie zurück. Heute lebt sie wieder in Basel und schreibt Kurzgeschichten, Essays und Gedichte, wobei sie sich besonders gerne von der Natur, von Träumen und inneren Weisheiten inspirieren lässt.
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