Chaos im Kosmos

Christa Blenk für #kkl44 „Kosmos“




Chaos im Kosmos

»Hoppla«. Er stand plötzlich vor mir, Jean. Minimal kleiner als ich, braune Augen, sanfte Stimme, dunkelbraune Haare. Ich sah Sterne und dann begann das Feuerwerk.

Jean lebte mit seiner Mutter permanent an diesem Ort, in dem wir Ferien machten.

Wir waren beide 16 und für den Rest der Ferien verliebt und unzertrennlich. Aber dann, wie aus heiterem Himmel, war der letzte Tag gekommen.

Jean und ich saßen seit 21.30 Uhr händchenhaltend im noch warmen Sand. Wir würden uns jeden Tag mailen und mit Sehnsucht auf die nächsten Ferien warten.

»Siehst Du das, Kathi, genau über uns, das Sommerdreieck. Die bekannteste Konstellation in den Sommer- und Herbstmonaten am nördlichen Sternenhimmel. Diese Sterne leuchten heller als andere und sie heißen Wega, Deneb und Altair. Du findest sie in den Sternenbildern von Leier, Schwan und Adler. Die Milchstraße zieht hier durch und weiter im Süden könnten wir das Sternbild Wassermann sehen, tun wir hier aber nicht«.

Wassermann, das Sternzeichen kannte ich. Ich bin im Februar geboren. Aber warum der jetzt im August zu sehen sein soll, verstand ich nicht und warum man ihn dann doch nicht sah, erst recht nicht. Ich versuchte, die anderen Sternenbilder oder wenigsten den Schwan oder den Adler zu erkennen. Ohne Erfolg. Die drei Hauptsterne in diesem Sommerdreieck waren von so vielen Nebensternen und Satelliten umgeben, dass es einem ganz schwindelig wurde. Also legte ich mich in den Sand, um leichter nach oben schauen zu können. Ich hatte allerdings keine Erfahrung, den Himmel zu betrachten und konnte überhaupt nichts auseinander halten oder erkennen. Jean hingegen kannte sich sehr gut aus.

»Im August werden ab 22.00 Uhr die Sterne nach und nach angeschaltet«, führte Jean seinen Vortrag fort und in der Tat wurden es mit jeder Sekunde mehr.

»Bis Mitte August kreuzt die Erde die Bahn des Kometen Swift Tuttle und fliegt praktisch durch dessen Staubspur. Immer wenn so ein Staubkorn des Kometen in die Erdatmosphäre eindringt, verglüht es und wir sehen eine Sternschnuppe über den Himmel huschen. Das sind die sogenannten Perseiden-Tränen. Heute ist die Sternschnuppennacht schlechthin, Kathi.“

Na ja, dachte ich, Sternschnuppen würden unsere bevorstehende Trennung auch nicht verhindern.

»Genau weiß man es nicht, aber schon in der Antike interpretierte man die Sternschnuppen als himmlische Zeichen, als Götterbotschaften. Sie passieren wie Gedankenblitze, schnell und ephemer. Ihre Leuchtspur ist unglaublich lang, eben weil sie verglühen. Ab heute wird sich auch Venus wieder zeigen. Venus gehört zu den erdähnlichen Planeten, sie ist ein Gesteinsplanet und der drittkleinste im Sonnensystem. Venus kommt in seiner Umlaufbahn der Erde am nächsten und ist nach dem Mond das hellste Gestirn am Nachthimmel. Venus ist entweder Morgen- oder Abendstern und verschwindet um Mitternacht und ist der Liebesgöttin Venus gewidmet«, erklärte mir Jean und blickte nach oben.

Die Sternschnuppenschlacht vor meinen Augen war gigantisch. Es schnuppte und glühte einfach überall. Nach ein paar Sekunden war es wieder vorbei.

»Großartig, ich habe es Dir ja gesagt. Heute ist die perfekte Nacht dafür. Jetzt musst Du Dir schnell etwas wünschen“, meinte Jean überglücklich und drückte meine Hand.

»Aber Dein Wunsch geht nur in Erfüllung, wenn Du ihn nicht aussprichst. «

»Ach, das ist doch Kinderkram«, sagte ich zögernd, konnte aber dann doch nicht widerstehen. Bevor ich mich versehen konnte, war er auch schon gedacht, mein Wunsch dass Jean und ich uns nie wieder sehen werden.

Was war das denn, wer hat mir denn hier einen Streich gespielt? Hatte ich vielleicht eine falsche Sternschnuppe angerufen, einen starlink? Um Gottes Willen, wie konnte ich denn diesen falschen Wunsch ungedacht machen? Ich wusste schon, warum ich da nicht mitspielen wollte. Das hatte Jean nun davon. Selber schuld. Die doofen Sterne, warum mussten die auch gerade jetzt ihre Schnuppen oder Kometen-Sandkörner oder wie immer das hieß loswerden. Hätten die damit nicht bis morgen warten können? So ein Mist. Ob es Sinn machte, überlegte ich schnell, weiter in den Himmel zu starren und vielleicht noch einmal eine Sternschnuppe verglühen zu sehen. Dann könnte ich mir sternschnuppengeschwind das Gegenteil wünschen. Ja, das wäre wohl die beste Lösung. Also richtete ich meine Augen gespannt wieder nach oben und prompt, nach ein paar Sekunden schnuppte es erneut durch den Himmel. Jean neben mir, lag im Sand und lächelte verklärt, sicher zufrieden mit seinem Wunsch. Ich konnte mir ja denken, wie dieser lautete. Aber, nun hatte ich ja gerade einen neuen Wunsch frei bekommen und ich könnte mir wünschen, den ersten Wunsch aufzuheben. Aber das dem Wünschen muss wohl auch gelernt sein. Gerade als ich den ersten, unglückseligen Wunsch aufheben wollte, wünschte ich mir, im nächsten Jahr die Ferien bei meiner Tante Theres in den Bergen zu verbringen.

Aber was war denn bloß los mit mir. Ihr hatte ich immer noch nicht den letzten Geburtstag verziehen. Sie wusste genau, dass ich neue Turnschuhe brauchte und was schenkt sie mir: ein Jahresabonnement für eine Kunstzeitschrift, nur weil sie malt.

Jean war nun eingeschlafen, oder vielleicht hing er auch nur seinem dämlichen Wunsch nach. Er hatte es gut und musste nicht ständig nachbessern. Er hatte ja keine Ahnung, in welchem Dilemma ich mich gerade befand. Keinen blassen Schimmer, dieser Egoist!

Also, auf ein Neues! Ich starrte in den Augusthimmel und wirklich sauste schon nach kurzer Zeit eine weitere Sterneschnuppe über den Horizont. Perfekt, jetzt aber aufpassen, Kathi. Aber was wollte ich denn eigentlich. Ich musste mich beeilen, denn so ein Wunschgeschenk hält ja nicht ewig an, meinte Jean wenigstens. Obwohl, woher sollte er das denn wissen. Aber ich wollte lieber nichts riskieren und ihm hier Glauben schenken. Hin und her tobten meine Gedanken und wollten sich nicht einfangen lassen. Also, ich wünsche mir, im kommenden Schuljahr neben Emma zu sitzen.

Nein, nicht schon wieder. Jetzt habe ich schon drei Wünsche verpatzt. Emma schreibt doch ständig ab, sie geht mir auf die Nerven und redet viel zu viel. Das war ja alles verwunschen hier heute Nacht und das komplette Universum hatte sich gegen mich verschworen. Ich war nun schön langsam stinksauer auf Jean, dass er mich in diese Situation gebracht hat und blickte erneut und intensiv gen Himmel.

In Märchen hat man drei Wünsche frei. Das ist wesentlich praktischer, denn wenn man sich mit einem vertut, kann man es beim nächsten ändern und hat immer noch den dritten. Auf der anderen Seite, war das auch wieder nicht gerecht, denn wer hinderte einen denn daran, sich zu wünschen, dass die Wünsche gar nicht ausgingen und dann stimmte das mit den drei Wünschen auch nicht mehr und wo käme denn die Welt da hin, wenn jeder endlos wünschen könnte. Nein, nichts da, da war dann die Sternschnuppenmethode doch um Klassen besser und eigentlich recht demokratisch. Wer soll sich denn hier noch auskennen, wenn man sich zuerst etwas wünscht und sich dann wünscht, es sich nicht gewünscht zu haben. Und dann kommt wieder etwas ganz anderes dabei heraus. Total schräg ist das und irgendwann gar nicht mehr praktizierbar, weil man ja auch den Überblick verliert.

Also gut, im August soll das hier Knall auf Fall gehen. Meine Chancen standen gar nicht so schlecht. Dieses Mal würde ich gewappnet sein. Ich musste allerdings ganze drei Minuten warten, bis ich eine weitere Sternschnuppe zu sehen bekam. Ich hatte Glück, ein echtes Schweineglück. Als aber dann mein vierter Wunsch ohne mein Zutun gedacht war, musste ich das mit dem Glück wieder zurücknehmen. Warum zum Teufel habe ich mir jetzt gewünscht, lange, blonde Locken zu haben. Dabei liebe ich doch meine dunkelbraunen, glatten, feinen Haare. Blond steht mir gar nicht und passt nicht zu meiner neuen Jacke. Und Locken, um Gottes willen, die waren doch komplett out, kitschig und provinziell. Alle Mädchen mit natürlichen Locken mussten stundenlang ihr Glätteisen benutzen, um einigermaßen anständig auszusehen. Also, das würde heute nichts mehr werden. Ich hatte bis jetzt vier Wünsche frei und die zielten im Moment darauf hinaus, Jean nicht mehr zusehen, in den nächsten Ferien zu meiner Tante Theres in die Berge zu fahren und das kommende Schuljahr mit blonden Locken neben Emma auf der Schulbank zu sitzen. Ein Glätteisen müsste ich mir obendrein von meinem Ersparten kaufen, denn Weihnachten war noch weit weg. Das war ja eine schöne Bescherung und alles nur, wegen dieser bescheuerten Sternschnuppen und diesem Wunschwahn, zu dem ich mich habe hinreißen lassen. Während ich das dachte, blickte ich gezielt nach oben, in der Hoffnung, meine vier misslungenen Wünsche nun definitiv für nichtig erklären zu lassen. Aber es tat sich nichts. Mittlerweile hatte ich komplett die Kontrolle über meine Prioritäten verloren. Ich blickte seitlich auf Jean, aber nur mit einem Auge, dass mir die nächste Sternschnuppe ja nicht entging. Jean dämmerte dümmlich vor sich hin und mir war nun klar: Wunsch Nummer eins soll so bleiben, wie ich ihn gewünscht habe. Neben Emma sitzen wäre vorstellbar und das mit den blonden Locken käme auf einen Versucht an. Die neue Jacke konnte ich doch sicher umtauschen und in den Bergen wäre jedenfalls mein Vater glücklich. Außerdem ist der Kuchen von Tante Theres wirklich unschlagbar. Und wirklich, ich bekam eine letzte Chance, denn es explodierten nun gleich zwei Sternschnuppen gleichzeitig direkt über mir. Dieses Mal durfte ich es aber nicht verbocken. Ok, dann wünsche ich mir, dass der erste Wunsch in Erfüllung geht.

Uff! Glücklich und befreit stand ich auf und verließ Jean zuwinkend den Strand. Er kam mir hinterher gerannt und meinte, dass ich doch nicht so einfach gehen könne, schließlich hätte er sich ja gewünscht, dass wir für immer zusammen bleiben würden.

»Eben«, sagte ich lakonisch, »damit ist Dein Wunsch ungültig geworden. Schon vergessen? Du hättest ihn nicht laut aussprechen dürfen, Jean«.

Er schaute mich betroffen an, setzte sich umgehend wieder in den Sand und richtete die Augen nach oben. Aber ich war mir sicher, dass wir unser Kontingent für heute Nacht erschöpft hatten und sagte »Versuch es morgen wieder, Jean. Aber erinnere Dich daran, was Epikur zu dem Thema Wunsch gesagt hat.« Jean schaute mich nur groß an.

»Laut Epikur«, fuhr ich fort, »gibt es drei Arten von Wünschen. Die natürlichen und notwendigen, die natürlichen und nicht notwendigen und die nicht natürlichen und nicht notwendigen. Dieses groteske Sternschnuppen-Wünsche-Chaos fällt definitiv und ohne Diskussion unter die Nummer drei: nicht natürliche und nicht notwendige Wünsche und solche sollten sowieso nie erfüllt werden, meint Epikur«.

Damit war nun die Angelegenheit Jean beendet. Hätte er mich mit den Sternschnuppen in Ruhe gelassen, würde ich jetzt vor Abschiedsschmerz weinen, mindestens bis Weihnachten an ihn denken und vor Liebeskummer nicht mehr essen. Aber so war ich wieder solo und wer weiß, vielleicht kommt ja ein schnuckeliger Junge neu in unsere Klasse.

Ich war versöhnt! Die Sterne haben es dann doch ganz gut mit mir gemeint. Ich war jung und frei und musste nicht Jean hinterher weinen. Rundum zufrieden mit meinem Schicksal blickte ich mit unerschütterlichem Optimismus in die Zukunft und auf das neue Schuljahr.

Jean hatte ich schon am Flughafen vergessen, als sich ein total cooler Typ hinter uns in die Check-in-Schlange stellte. Sollte ich es wagen und mir wünschen, neben ihm zu sitzen? Machte uns nicht unsere Flexibilität erst zu Erwachsenen?




Christa Blenk lebt hauptsächlich am Atlantik. Sie hat Kurzgeschichten in unterschiedlichen Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlich und schreibt Ausstellungskataloge. Seit zehn Jahren verfasst sie regelmäßig Artikel für das Berliner Online Magazin KULTURA-EXTRA über Kunst, Musik und Reisen.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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