Marcel Kober für #kkl44 „Kosmos“
Kosmos
I.
Sarah blinzelte und rieb sich die müden Augen. Es war kurz nach Mitternacht, und die Stille des Schulobservatoriums wurde nur vom leisen Summen der Geräte unterbrochen. Sie beugte sich wieder über das Okular des Teleskops und justierte vorsichtig die Einstellungen.
Plötzlich hielt sie inne. Etwas stimmte nicht.
„Das kann nicht sein“, murmelte sie und überprüfte hastig die Koordinaten. Die Sterne im Sichtfeld des Teleskops bildeten ein Muster, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Es war, als hätten sich die Himmelskörper neu angeordnet, eine unmögliche Konstellation formend.
Sarah griff nach ihrem Smartphone und öffnete die Astrofotografie-App. Mit zitternden Händen richtete sie die Kamera auf den Nachthimmel. Der Auslöser klickte.
In diesem Moment durchfuhr ein Schauer ihren Körper. Ein leises Flüstern, kaum hörbar, schien direkt in ihrem Kopf zu erklingen. Sarah schüttelte verwirrt den Kopf.
„Ich muss übermüdet sein“, sagte sie zu sich selbst, doch ihre Stimme klang unsicher in der Dunkelheit des Observatoriums.
Sie warf einen letzten Blick durchs Teleskop. Das seltsame Muster war verschwunden, die Sterne standen wieder an ihren gewohnten Positionen. Hatte sie es sich nur eingebildet?
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen begann Sarah, ihre Sachen zusammenzupacken. Sie würde die Aufnahmen morgen genauer untersuchen. Vielleicht war es wirklich nur die Müdigkeit gewesen.
Als sie die schwere Tür des Observatoriums hinter sich schloss, warf sie noch einen letzten Blick zum Himmel. Die Sterne funkelten friedlich wie eh und je. Doch tief in ihrem Inneren wusste Sarah, dass etwas nicht stimmte.
Was sie in dieser Nacht gesehen hatte, würde ihr Leben für immer verändern.
II.
Der nächste Schultag zog sich endlos hin. Sarah kämpfte gegen die Müdigkeit an, ihre Gedanken kreisten unablässig um die Ereignisse der letzten Nacht. In der Mittagspause zog sie sich in eine ruhige Ecke der Bibliothek zurück und öffnete mit klopfendem Herzen die Fotos auf ihrem Smartphone.
Ihr Atem stockte. Das Bild zeigte den gewohnten Sternenhimmel – keine Spur von der seltsamen Konstellation, die sie gesehen hatte. Sarah scrollte hektisch durch die Aufnahmen, doch alle waren normal. Hatte sie sich das Ganze nur eingebildet?
„Ist alles in Ordnung, Miss Cooper?“ Die Stimme von Mr. Donovan, ihrem Physiklehrer, ließ sie zusammenzucken.
„Ja, ich… ich habe nur etwas nachgeschaut“, stammelte Sarah und versuchte, ihre Verwirrung zu verbergen.
Mr. Donovan musterte sie mit einem nachdenklichen Blick. „Sie sehen erschöpft aus. War die Nachtwache im Observatorium so anstrengend?“
Für einen Moment erwog Sarah, ihm alles zu erzählen. Doch dann siegte die Vernunft. „Es war nur… eine lange Nacht“, antwortete sie ausweichend.
Der Lehrer nickte langsam. „Nun, falls Sie jemals über etwas reden möchten – meine Tür steht immer offen.“
Sarah zwang sich zu einem Lächeln und packte hastig ihre Sachen zusammen. Als sie aufstand, wurde ihr schwindelig. Für den Bruchteil einer Sekunde schien sich der Raum zu verzerren. Die Bücherregale wogten wie Wellen, und aus den Schatten formten sich tentakelartige Gebilde.
Sie blinzelte, und alles war wieder normal. Mr. Donovan sah sie besorgt an.
„Vielleicht sollten Sie nach Hause gehen und sich ausruhen“, schlug er vor.
Sarah nickte benommen und verließ fluchtartig die Bibliothek. Auf dem Heimweg bemerkte sie, wie Passanten sie seltsam ansahen. Erst als sie in ihr Zimmer stürmte und in den Spiegel blickte, verstand sie warum.
Ihre Augen waren blutunterlaufen, dunkle Ringe zeichneten sich darunter ab. Aber das war es nicht, was sie erschreckte. In ihren Pupillen schienen winzige Lichtpunkte zu tanzen – wie ein Abbild des Nachthimmels.
Sarah taumelte zurück und ließ sich auf ihr Bett fallen. Was geschah mit ihr?
Als die Dunkelheit hereinbrach, wagte sie einen Blick aus dem Fenster. Die Sterne funkelten am Himmel, unschuldig und vertraut. Doch in ihrem Kopf begann das Flüstern erneut, lauter diesmal, drängender.
Sie musste herausfinden, was es zu bedeuten hatte. Koste es, was es wolle.
III.
Die nächsten Tage verschwammen zu einem Nebel aus Erschöpfung und wachsender Paranoia. Sarah vermied es, in den Spiegel zu schauen, aus Angst vor dem, was sie in ihren Augen sehen könnte. Das Flüstern in ihrem Kopf wurde lauter, eindringlicher, doch die Worte blieben unverständlich.
In der Schule zog sie sich zurück, ignorierte die besorgten Blicke ihrer Freunde. Nur Mr. Donovans forschende Augen schienen durch ihre Fassade zu dringen.
An einem Nachmittag hielt er sie nach dem Unterricht zurück. „Sarah, ich mache mir Sorgen um Sie. Seit der Nacht im Observatorium verhalten Sie sich… anders.“
Sie wollte abwinken, eine Ausrede erfinden. Doch stattdessen brachen die Worte aus ihr heraus: „Ich habe etwas gesehen, Mr. Donovan. Etwas, das nicht sein kann.“
Der Lehrer lauschte schweigend, während Sarah von der unmöglichen Sternenkonstellation erzählte, von den Visionen und dem unheimlichen Flüstern. Sie erwartete Unglauben, vielleicht sogar Spott. Stattdessen nickte Mr. Donovan langsam, sein Gesicht eine Maske aus Ernst und… war das Furcht?
„Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, Sarah“, sagte er leise, „von denen die meisten Menschen nichts ahnen. Dinge, die besser verborgen bleiben sollten.“ Er zögerte, dann ging er zu einem verschlossenen Schrank und holte ein altes, ledergebundenes Buch hervor.
„Vor Jahren habe ich ähnliche Erfahrungen gemacht wie Sie. Ich dachte, ich würde den Verstand verlieren. Dieses Buch hat mir geholfen zu verstehen.“
Sarah nahm das Buch mit zitternden Händen entgegen. Der Einband war mit fremdartigen Symbolen verziert, die sich vor ihren Augen zu bewegen schienen.
„Seien Sie vorsichtig“, warnte Mr. Donovan. „Wissen kann gefährlich sein. Aber vielleicht finden Sie darin die Antworten, die Sie suchen.“
Als Sarah an diesem Abend in ihrem Zimmer das Buch öffnete, fiel ihr Blick auf eine Illustration, die ihr den Atem raubte. Es zeigte exakt das Sternenmuster, das sie im Observatorium gesehen hatte. Darunter standen Worte in einer fremden Sprache, doch zu ihrem Entsetzen konnte sie sie lesen:
„Das Zeichen des Erwachens. Wenn die Sterne sich neu ordnen, öffnet sich das Tor zwischen den Welten.“
Mit wachsendem Grauen las Sarah weiter. Von uralten kosmischen Wesen, die jenseits unserer Realität schlummerten. Von Zyklen des Erwachens und der Zerstörung. Und von jenen seltenen Menschen, die die Zeichen lesen konnten – den unfreiwilligen Herolden der kommenden Apokalypse.
Das Flüstern in ihrem Kopf wurde zu einem Crescendo, als sich die Puzzleteile zusammenfügten. Sarah erkannte mit erschreckender Klarheit: Sie war eine dieser Herolde. Und die Zeit lief ab.
IV.
Die folgenden Tage verschwammen zu einem Albtraum aus gehetztem Studium und wachsender Verzweiflung. Sarah verschanzte sich in ihrem Zimmer, das Buch ihr einziger Begleiter. Ihre Eltern klopften besorgt an die Tür, doch sie sperrte sie aus – aus Angst, sie könnten die Veränderung in ihren Augen bemerken, in denen nun ein ganzes Universum zu tanzen schien.
Die Worte des Buches brannten sich in ihr Gedächtnis. Es sprach von Zyklen kosmischer Vernichtung, von Wesen jenseits menschlicher Vorstellungskraft, die nur darauf warteten, in unsere Realität einzudringen. Und es sprach von einem Ritual, das die Tore zwischen den Welten versiegeln konnte – für einen weiteren Zyklus.
Aber der Preis war hoch. Zu hoch?
Sarah wagte sich nur noch nachts aus dem Haus, getrieben von einer inneren Unruhe. Die Stadt um sie herum schien sich zu verändern. Schatten bewegten sich eigenartig, Gebäude verzerrten sich in unmöglichen Winkeln. In dunklen Gassen glaubte sie, tentakelartige Formen zu sehen, die sich hastig zurückzogen, wenn sie genauer hinsah.
Die Stimmen in ihrem Kopf wurden lauter, klarer. Sie flüsterten von Macht, von Wissen jenseits menschlicher Grenzen. All das könnte ihr gehören, wenn sie nur dem Ruf folgen würde…
In einer besonders düsteren Nacht führten ihre Schritte sie zum Observatorium. Mr. Donovan erwartete sie bereits, sein Gesicht eine Maske aus Sorge und Entschlossenheit.
„Sie haben es also auch gespürt“, sagte er leise. „Die Barriere zwischen den Welten wird dünner. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“
Sarah nickte stumm. Gemeinsam stiegen sie die Treppe zur Kuppel hinauf. Oben angekommen, stockte ihr der Atem. Der Nachthimmel hatte sich verändert. Unmögliche Konstellationen tanzten vor ihren Augen, Sterne, die es nicht geben dürfte, pulsierten in unheimlichen Farben.
„Das Tor öffnet sich“, flüsterte Mr. Donovan. „Wir müssen das Ritual durchführen. Jetzt.“
Er breitete einen Kreis aus seltsamen Symbolen auf dem Boden aus, platzierte Kerzen an strategischen Punkten. Sarah spürte, wie sich Energie um sie herum aufbaute, eine Spannung, die die Luft zum Knistern brachte.
Doch als Mr. Donovan die ersten Worte der Beschwörung sprach, durchzuckte Sarah ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn das Buch log? Was, wenn das Ritual nicht die Rettung brachte, sondern den endgültigen Untergang?
Die Stimmen in ihrem Kopf schrien nun, ein Kakophonie aus Verlockung und Warnung. Sarah schwankte, unfähig zu entscheiden, was richtig war.
In diesem Moment zerriss ein greller Lichtblitz die Nacht. Durch die Glaskuppel sahen sie, wie sich der Himmel teilte. Und in der klaffenden Leere dahinter regte sich etwas Gewaltiges, Unaussprechliches.
Die Zeit der Entscheidung war gekommen.
V.
Die Welt um Sarah herum schien zu zerfließen. Durch den Riss im Himmel quollen amorphe Formen, die das menschliche Auge nicht erfassen konnte. Mr. Donovan schrie etwas, seine Stimme seltsam verzerrt, als käme sie aus weiter Ferne.
Sarah stand wie erstarrt, gefangen zwischen zwei Realitäten. Die Stimmen in ihrem Kopf erreichten ein ohrenbetäubendes Crescendo. Versprechungen von kosmischem Wissen und unvorstellbarer Macht vermischten sich mit Bildern globaler Vernichtung.
In diesem Moment absoluter Klarheit verstand Sarah endlich die wahre Natur ihrer Rolle. Sie war weder Opfer noch auserwählte Retterin. Sie war der Katalysator, der Schlüssel, der das Tor in beide Richtungen öffnen oder schließen konnte.
Mit zitternden Händen griff sie nach dem alten Buch. Die Symbole auf den Seiten pulsierten, als hätten sie ein Eigenleben. Sarah begann zu lesen, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Doch mit jedem Wort gewann sie an Kraft.
Die fremden Silben füllten den Raum, vermischten sich mit dem Heulen des kosmischen Windes, der durch den Riss wehte. Sarah spürte, wie sich Energien um sie herum aufbauten, wie Realitäten aufeinander prallten.
Mr. Donovan starrte sie mit einer Mischung aus Furcht und Ehrfurcht an. „Sarah, was tun Sie da?“
Sie hielt inne, ein trauriges Lächeln auf den Lippen. „Was getan werden muss.“
Mit diesen Worten setzte sie die Beschwörung fort. Doch sie folgte weder dem Ritual zur Versiegelung des Tores, noch dem Ruf der fremden Wesen. Stattdessen webte sie ein eigenes Muster, erschuf einen dritten Weg.
Die Luft um sie herum begann zu flimmern. Der Riss im Himmel pulsierte, dehnte sich aus und zog sich wieder zusammen. Aus den Augenwinkeln sah Sarah, wie sich die Wände des Observatoriums auflösten, wie die Grenzen zwischen den Welten verschwammen.
Mit den letzten Worten der Beschwörung spürte sie, wie sich etwas in ihr veränderte. Das Flüstern der Sterne wurde zu einem harmonischen Chor, zu einem Wissen, das ihr ganzes Sein durchdrang.
Ein gleißendes Licht explodierte aus ihr heraus. Für einen Moment existierte nichts mehr – weder sie selbst, noch das Observatorium, noch die Erde. Alles war eins mit dem Kosmos.
Als das Licht verblasste, fand sich Sarah auf dem Boden des Observatoriums wieder. Mr. Donovan kniete neben ihr, Tränen in den Augen. „Es ist vorbei“, flüsterte er. „Sie haben es geschafft.“
Sarah erhob sich langsam und blickte zum Himmel. Die Sterne funkelten friedlich, als wäre nichts geschehen. Doch sie wusste es besser. Die Barriere zwischen den Welten war nicht verschlossen, aber auch nicht vollständig geöffnet. Sie hatte ein Gleichgewicht geschaffen, eine Brücke des Verständnisses.
In ihren Augen tanzte noch immer das Abbild des Universums, doch nun war es ein vertrauter Anblick. Sarah lächelte. Sie hatte ihre Bestimmung gefunden – als Hüterin des kosmischen Gleichgewichts, als Vermittlerin zwischen den Welten.
Das Flüstern der Sterne war nun eine willkommene Melodie in ihren Gedanken. Eine Erinnerung daran, dass das Universum voller Wunder und Gefahren war – und dass es an ihr lag, beides im Einklang zu halten.
Als sie und Mr. Donovan das Observatorium verließen, wusste Sarah, dass dies erst der Anfang war. Eine neue Reise begann, eine Reise an der Schwelle zwischen Realität und Kosmos.
Die Sterne flüsterten, und Sarah hörte zu.

Marcel Kober ist als deutscher Anime-Blogger seit 2012 aktiv. Damals begann er unter dem Pseudonym „citybloop“ auf YouTube, mittlerweile ist er jedoch hauptsächlich auf TikTok unterwegs. Aktuell schreibt er regelmäßig für die Filmzeitschrift Deadline, die Website AnimeCorner und das Anime-Magazin Koneko. Zudem verfasst er regelmäßig Gastbeiträge z.B. in phantastisch! oder SPOT media & film.
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