Das Kosmos-Spiel

Jo Landes für #kkl44 „Kosmos“




Das Kosmos-Spiel

In jeder einzelnen Sternschnuppennacht stellte sich Fine einen Wecker. Manchmal machte Elissa mit, aber meistens verschlief sie ihn dann. Sie bereut, dass ihr der Schlaf damals wichtiger war.

Das, was sie auf der Erde als Sternschnuppen sah, hagelt jetzt auf die Wände des Raumschiffes und löst Alarme aus. Grelles Heulen und rote Lichtwellen. Elissa kann nichts tun, außer zuzusehen.

Es ist nicht ihre Aufgabe, die Meteoriden wegzulenken. Sie hat hier nicht wirklich eine Aufgabe. Auf dem Raumschiff sind noch fünfzigtausend andere Menschen und die meisten davon wichtiger als sie. Mit neun Jahren begann sie ihre Reise auf dem Schiff. Jetzt ist sie vierzehn.

Damals zeigten ihre Eltern Bilder von einer blauen, blass gemaserten Murmel auf schwarzem Grund. Sie erzählten von tapferen Astronauten und Pionieren. Damit machten sie Elissa den Mund wässrig und das wussten sie genau. In einem Nebensatz erwähnten sie, dass Elissa selbst die fremde Erde nie erreichen würde. Dieses Abenteuer gehörte den Kindern ihrer Kinder ihrer Kinder …

„Was sagst du dazu?“, fragte ihre Mutter, als ob Elissa eine Wahl hätte. Ihre Eltern hatten die Entscheidung schon längst getroffen. Sie würden der alten Erde und ihrem zornigen Wetter den Rücken kehren.

Elissa hatte sich damit abgefunden. Ihr einziges Problem war Fine. Die Familie ihrer besten Freundin wollte keinen Platz im Raumschiff. Elissa gab ihr Bestes, um sie zu überzeugen. Dabei waren die Plätze schon längst verteilt und sie hatte keine Ahnung, nach welchem System. Elissas Eltern schwiegen sich sorgfältig darüber aus.

Sie redete sich ein, schon noch einen Weg zu finden. Vielleicht eine andere Familie, die im letzten Moment den Rückzieher machte. Ihre Mutter sagte, dieses Maß an Fantasie tue ihr nicht gut.

Aber Fine brachte sie mit dem Plan schnell an Bord. Sie spielten jeden Tag das Kosmos-Spiel auf dem Steinhaufen im Hinterhof ihres Hauses. Dafür türmten sie raue Ziegel zu Schiffen und Planeten, während über ihnen ein verkümmerter Feigenbaum die Äste spannte. Fine spielte den Captain und Elissa den Assistenten oder das Alien oder den Alien-Assistenten.

Es war wirklich leicht, Fine zu überzeugen.

Ihre Eltern waren das Problem.

„Das war unmoralisch, den Scheiß überhaupt zu bauen“, sagte Fines Vater zu Elissa, deren Augen bei Erwähnung des Schimpfwortes groß wurden. „Mit der Ressourcenknappheit hier unten, daran hat niemand gedacht. Sag das deinen Eltern mal.“

In einem kleinen Winkel ihrer selbst wusste Elissa, dass sie Fine verlieren würde. Aber sie war nicht bereit, das zu akzeptieren. Die ganze Wucht der Trennung traf sie erst, als es zu spät war.

Das Raumschiff hat einige Gemeinschaftsräume mit riesigen, nach außen gewölbten Fenstern. Zum richtigen Zeitpunkt und mit Glück sind sie menschenleer. Elissa kennt den richtigen Zeitpunkt genau. Sie sitzt gern allein an den Fenstern und blickt in den Nachthimmel. Es ist jetzt immer ein Nachthimmel, ganz egal, wann sie ihn ansieht. Die Lichter im Raumschiff simulieren die Drehung der Sonne, aber es ist nicht das Gleiche, weil sie weiß, dass es künstlich ist.

Wenn sie will, erinnert Elissa sich genau an ihre letzten Tage auf der alten Erde. Das fahle Licht im Hinterhof, die Hitze der Ziegel und der modrige Geruch des Feigenbaums. Sie erinnert sich an jede einzelne Regel des Kosmos-Spiels.

Ein Alien konnte Gedanken lesen und ein Alien-Assistent vielleicht auch, aber er tat es nur im absoluten Notfall. Ein Alien konnte böse sein, aber ein Assistent niemals. Und der Captain lenkte das Raumschiff, außer er war schwer verletzt.

Meistens will Elissa nicht daran denken. Bei zu viel Nutzung können die Erinnerungen verblassen. Aber sie können auch verblassen, wenn man sie zu wenig nutzt. Es ist ein schwieriger Balanceakt.

Das letzte halbe Erdenjahr zerrann ihr zwischen den Fingern. Jeder Monat fühlte sich an wie eine Woche. Dafür streckten sich die letzten fünf Tage wieder unendlich in die Länge, alles in Zeitlupe und Nahaufnahme. Im Nachhinein findet sie es lächerlich, dass ihr selbst der Dreck am Küchenboden bedeutungsvoll erschien.

Die letzten Tage mit Fine waren schwer. Sie wirkte abwesend und angespannt und suchte nach Streit.

„Was machst du überhaupt noch hier?“, sagte sie bei ihrem letzten Treffen. „Du haust doch eh bald ab und in zwei Wochen bin ich dir egal.“

Es ist fast fünf Jahre her und Elissa wünscht, dass Fine ihr egal wäre.  

„Vermutlich ein Bewältigungsmechanismus“, sagte die Therapeutin, die man Elissa auf dem Raumschiff zugewiesen hatte. Um ihr das Heimweh zu nehmen, sagte sie auch einmal: „Du bist damit ganz und gar nicht allein, Elissa. Sogar ich habe manchmal Heimweh. Mir hilft es, wenn ich mir klarmache, dass ich Teil von etwas Größerem bin. Vielleicht tröstet dich das.“

Es tröstet sie nicht. Sie will nichts Größeres. Sie will zu Fine. Aber genauso gut kann sie sich eine Zeitreise wünschen. Die Erde ist schon zu weit weg und sie hat das Gefühl, an der Entfernung zu ersticken.

„Du läufst hier rum wie das Leiden Christi, dabei hast du nichts, was dir fehlt“, sagt ihr Vater.

„Es ist ein Privileg hier zu sein“, sagt ihre Mutter. „Auf der Erde gibt es nichts mehr.“

Elissa glaubt ihr nicht. Die Erde war leuchtend grün und blau, inmitten von Schwarz. Mittlerweile sieht sie nur noch Schwarz mit ein paar versprengten Sternen. Nach dem ersten Raumschiff-Jahr wurde die Erde immer kleiner und verschwand schließlich im Dunkeln, zusammen mit Fine.

Elissa stand eines Tages am Fenster und sie war einfach weg. Nicht mal mehr ein Punkt. Ihr Herz hämmerte wie verrückt.

In ihren wildesten Träumen findet Elissa irgendwo ein Shuttle und rast damit durch den Weltraum, zurück zur Erde. Aber ihr ist klar, dass es nur Träume sind. Nur eine Fortsetzung vom Kosmos-Spiel.

Sie wird bald Fünfzehn, und sie findet, es wird Zeit, erwachsen zu sein. Aber ihr Kopf kehrt immer wieder zu den Kinderträumen zurück. Fine ist bestimmt schon ein anderer Mensch. Groß und hübsch, langsam an Jungs interessiert und leicht verlegen, wenn sie an die Kosmos-Spiele denkt.

Irgendwie ist Elissa hängen geblieben. Etwas muss beim Abflug falsch gelaufen sein, denn die Gesetze der Zeit treffen nicht mehr auf sie zu. Ihr Körper wurde ins All geschossen, aber der Rest ist hängen geblieben, irgendwo zwischen hier und da. Sie spielt immer noch das Kosmos-Spiel, während Fine wahrscheinlich nicht mal mehr die Regeln kennt.

Vielleicht ist auf der Erde bald wieder Sternschnuppennacht. Sie stellt sich vor, wie Fine sich den Wecker stellt und in den Himmel schaut. Jetzt sitzt da nicht mehr Elissa neben ihr, sondern ein anderes Mädchen. Ein Mädchen, das nie den Wecker verschläft. Sie trinken kleine Schlucke aus einer gestohlenen Bierflasche und unterhalten sich mit gesenkter Stimme. Dann kommen die Sternschnuppen, kleine helle Schnitte im Nachthimmel. Vielleicht, denkt Elissa, erzählt Fine dem anderen Mädchen vom Kosmos-Spiel. Vielleicht erzählt sie ihr von mir.



Jo Landes, geboren 2000, ist gelernte Mediengestalterin und studiert aktuell Multimedia und Kommunikation. Ihre letzte Veröffentlichung erschien in der Anthologie „Übersinnliche Begegnungen“ im net-Verlag.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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