Regina Schleheck für #kkl44 „Kosmos“
Tag ohne Gestern
Vergangenes, das niemand erinnert.
Nichts. Nein, weniger: Etwas, das sich der Vorstellungskraft entzieht. Un-säglich.
Dann – ja, dann: Ohne ein Vorher der Beginn von dem Etwas. Von allem. Furios: Hitze, Licht, Geschwindigkeit. Stecknadelkopfwinzig, von unendlichem Ausmaß, Geburt von Materie, Raum und Zeit. Wie das?
Für die Religion – paradox? – logisch: Vor der Erschaffung der Welt kann es nur nichts gegeben haben. Sonst wäre Schöpfung keine Schöpfung, sondern Umwandlung. Der Mensch, zumindest der lehmgeborene, bei dem Rippenkonstrukt sind wir nicht so sicher, ist Teil, nein Krone der Schöpfung. In seiner Wahrnehmungskraft dennoch limitiert. Sein evolutionärer Vorteil – in Anbetracht seines Raubbaus an den eigenen Lebensgrundlagen wird der Mehrwert gelegentlich bestritten –: die Imaginationskraft. Religion wie Wissenschaft ihr Werk. Das Nichts bleibt ein Faszinosum. Suchten nicht Mystiker wie Buddhisten das Nichts als Ende allen Leidens, aller Leidenschaften? Du solt minnen das niht / du solt vliehen das iht, so Mechthild von Magdeburg Anfang des 13. Jahrhunderts. Laut Sartre macht die Freiheit des Menschen aus, dass er verneinen kann – im Gegensatz zu Lebensformen, die dieses Bewusstsein nicht haben. Aber eine Verneinung ist nicht nichts. Sartre ist Franzose. Seine Sprache kennt zwei „Nichts“: „Rien“ ist unmöglich: Das, was nicht ist und nicht sein kann. „Néant“ ist möglich: Man kann es mit „Nichtsein“ übersetzen: Das, was nicht ist, aber sein könnte. Das Nichts in der Abgrenzung vom „Etwas“: „Iht“. Ist das Nichts vor dem Big Bang also ein „Rien“ oder ein „Néant“? Der Urknall macht aus dem Ersten das Zweite.
Der Casimir-Effekt erzählt von der Kraft des Vakuums. Das eben nicht Nichts ist, sondern eine Anziehungskraft entfaltet – nicht Gravitation, da keine Masse vorliegt. Eine Vakuumfluktuation, eine Schwankung, ungleiche elektromagnetische Wellen, innen- wie außerhalb des Nichts. Da die Kräfte außerhalb größer sind, übt das Vakuum Druck aus. Big Bang als fulminanter Auftakt zur Expansion des Universums, die wiederum zur Abkühlung führt. In der zunächst symmetrischen Energiesuppe sorgt ein winziger Dreckeffekt zum Ursprung der Zeit. Der Name des Physikers und Entdeckers Hendrik Casimir ist ein sprechender, einer mit doppelter Zunge: „Kazać“ heißt im Russischen „stiften“, „kazić“ „zerstören“, „mir“ „Frieden“. Der Casimir-Effekt zerstört und befriedet zugleich, sorgt für die Synthese des Etwas aus dem so vernichteten Nichts – im Wechsel von Werden und Vergehen. Ein fragiler Friede.
Schon das Nachdenken darüber, der Blick ins All, kann verstören wie befrieden. Ödön von Horvaths „Kasimir“ spricht das Dienstmädchen Erna Trost zu: Wissens, wenns mir schlecht geht, dann denk ich mir immer, was ist ein Mensch neben einem Stern. Und das gibt mir dann wieder einen Halt. Der verbitterte Kasimir schaut daraufhin lange in den Himmel und stellt fest: Die Welt ist halt unvollkommen. Sein letztes Wort: Nichts. Entsprechend dem Blick des Pessimisten auf das halbleere Weinglas, die Abwesenheit des Getränks, das „Néant“ fokussierend.
Morgenstern gelingt das Bravourstück, das Nichts zwischen dem Etwas für die Schöpfung des Etwas aus dem Nichts zu nutzen: Es war einmal ein Lattenzaun / mit Zwischenraum, hindurchzuschaun / Ein Architekt, der dieses sah / stand eines Abends plötzlich da / und nahm den Zwischenraum heraus / und baute draus ein großes Haus.
Eine der wichtigsten Antriebsfedern von Fiktion, Kreation, Kunst ist das Nichts. Der Antagonismus von dem, was ist, und dem, was nicht ist, aber sein könnte – Wunsch und Wirklichkeit, Drang und Dasein, Traum und Tatsache. Die Realität nach dem Big Bang kennt kein Nichts, wie Wischmeyer konstatiert: Immer is was, nie is nix. Entspringt der künstlerische Schaffensdrang im Umkehrschluss dem Horror Vacui? Der Angst vor der Leere des Lebens, vor dem leeren Blatt, der weißen Leinwand oder Lücke zwischen dem Etwas? Oder spielt Kunst nicht gerade mit dem Ungeschriebenen, Ungezeigten, dem zwischen den Zeilen Kommunizierten, der Leerstelle in der Erzählung, der Pause im Gespräch oder zwischen Lauten, Tönen, Klängen, wirkmächtiger als die Fülle, da der Rezipient aufgefordert ist, selbst die Lücke zu überbrücken? Und sind Gedanken, Vorstellungen, Fantasien etwa nichts? Wieso gelingt es uns nicht, nichts zu denken, gar das Nichts – „Rien“? Der Fluch des Etwas-Seins, die raum-zeitliche Bedingtheit geistig nicht transzendieren zu können? Ecce homo, Dornenkrone der Schöpfung. Augenzwinkern Gottes zwischen Urknall und Apokalypse. Ausgesperrt aus dem Paradies wie dem Nichts. Eintagsfliege in einem Universum ohne gestern und – so viel wähnen wir zumindest ahnen zu können – ohne Zukunft.
Dem Tag ohne Morgen.
Regina Schleheck, 1959 in Wuppertal geboren – in Köln aufgewachsen
1986 Studium Germanistik, Sozialwissenschaften, Sport in Aachen abgeschlossen
10 Jahre in Herford, seit 1996 in Leverkusen wohnhaft
geschieden, fünf mittlerweile erwachsene Kinder, Oberstudienrätin an einem Berufskolleg
nebenberuflich Referentin an Erwachsenenbildungseinrichtungen, Autorentätigkeit seit 1999, Lektorat und Herausgeberschaft
Schwerpunkt Kurzprosa und Hörspiele, aber auch Erzählungen, Drehbücher, Theaterstücke
viele Auszeichnungen und Veröffentlichungen
https://www.regina-schleheck.de/
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