Heldendämmerung

René Gröger für #kkl45 „Mutter, Vater, Eltern“




Heldendämmerung

Von Gardinen gedämpft fällt fahles Licht ins Zimmer. Alles ist merkwürdig blass, als ersticke der matte Schein sämtliche Farben. Das Foto an der Wand scheint ausgebleicht, genauso wie der Linoleumboden, der Nachtschrank und das Spitzendeckchen darauf. Der Stuhl, auf dem ich sitze, meine Tasche auf dem anderen Stuhl gegenüber, meine Kleidung, meine Hände, das Bett, in dem er liegt – wie in Asche gehüllt. Die Dämmerung bricht in den Raum herein, ein diffuses Schwanken zwischen Schatten und Licht im monochromen Filter der Vorhänge. Die Umgebung wirkt unscharf, wie zu kurz belichtete Negative, auf denen man nur schemenhaft die Motive erkennt. Das Öffnen und Schließen der Sauerstoffpumpe neben seinem Körper ist die einzige Bewegung im Raum, das gleichmäßige auf und ab einer in Glas gefassten, zylinderförmigen Membran. Ihr Geräusch ist beruhigend, ein an- und abschwellendes Rauschen, wie seichte Wellen, die am Strand auslaufen, eine nach der anderen, und dann im Sand versinken.

Ich sitze nur so da, lasse die Klangwellen an mir vorbeiziehen, starre in die graue Ödnis des Zimmers und empfinde Abscheu für den Mann, dem Schläuche aus Mund und Nase quirlen und den nur noch das mechanische Pumpen am Leben hält.

Der magere Körper liegt versteckt unter dem schmuddeligen Bettbezug des Hospizes. Nur seine Hände sind zu sehen, sie ruhen auf dem Bauch, wie zum Gebet gefaltet. Als wisse er, dass es an der Zeit ist, Buße zu tun.

Das Bild, das ich mir früher einmal von ihm gemacht habe, ist verblasst. Von dem, was da vor mir ums jämmerliche Leben kämpft, erinnert mich nichts mehr daran.

Wenn ich traurig war, weil er nicht nach Hause kam, versuchte ich mir einzureden, er müsse seine Bestimmung erfüllen. Ich unterdrückte die Schmerzen meiner Einsamkeit, weil sie doch nichts waren, verglichen mit dem Leid, das er verhinderte, indem er Menschen aus brennenden Hochhäusern rettete, bis an die Zähne bewaffnete Gangster mit bloßen Händen zur Strecke brachte und nach Weltherrschaft strebende Drogenkartelle im Alleingang zerschlug. Nachdem die Sonne unterging, rettete er die Welt. Tagsüber schlief er auf unserem zerschlissenen Sofa im Wohnzimmer, die Hände auf seinem Bauch gefaltet. Ich konnte ihn immer an ihm riechen, den Hauch vergangener Kämpfe für das Gute. Jede Nacht stellte er sich tapfer neuen Abenteuern und Bedrohungen, die in finsteren Seitenstraßen warteten.

Mein Vater war ein Superheld. Jedenfalls redete ich mir das ein, wenn ich ihn morgens schnarchend auf der Couch fand, mich davor niederließ und in meinen Comics blätterte. Superman. Spiderman. Batman. Aquaman. Privat waren sie alle unscheinbare Männer, doch sobald sie ihre Maske anlegten, verwandelten sie sich in Übermenschen – genauso wie mein Vater. Auch wenn man ihm die Superkräfte nicht unbedingt ansah, wenn er so auf der dalag, ihm der Speichel aus dem Mund floss und das Sofakissen tränkte. Irgendwann blieb die Couch morgens leer. Immer seltener fand mein Vater Zeit, sich in unserem Wohnzimmer von den Strapazen zu erholen. So wie die Bösewichte in meinen Comics immer mächtiger und böser wurden, lauerten wohl auch auf meinen Vater immer größere Gefahren, bis er eines Tages gar nicht mehr nach Hause kam.

In der Schule glaubten sie mir nicht. Sie sagten, er sei ein Säufer, ein Penner, ein Gammler. Selbst meine Lehrerin lächelte verlegen, als ich den Beruf meines Papas vor der Klasse präsentierte. All die anderen Töchter kamen an jenem Tag stolz mit ihren Vätern händchenhaltend in die Schule, die in ihren Polizeiwesten, Arztkitteln und Feuerwehruniformen auf lächerlich kleinen Stühlen herumrutschten. Ich saß allein da. Doch ich war mir sicher, dass mein Vater gerade irgendwo da draußen war, vielleicht in einen Umhang gekleidet, mit zuckendem Blitz als Emblem auf der Brust. Sicher hielt er sich in einem dunklen Winkel versteckt, um nach der Dämmerung wieder in den Kampf zu ziehen und die Welt von Angst und Schrecken zu befreien.

Was war im Vergleich dazu schon die Furcht, die ich empfand, sobald ich abends das Licht in meinem Kinderzimmer ausknipste? Die Straßenlaterne vorm Haus warf unheimliche Baumschatten an meine Zimmerdecke, die Äste verwandelten sich in Klauen, die nach mir tasteten. Panik kroch in mir hoch, so sehr ich mich auch bemühte, mutig wie mein Vater zu sein, es gelang mir nicht. Ohne ihn wuchsen die monströsen Greifarme der Nacht, sie schwebten über mir, absorbierten alles Schöne. Doch mein Vater kam nicht, um mich zu beschützen und um mich von den Qualen zu befreien. Er hatte mich vergessen.

Und jetzt sitze ich hier bei ihm. Mein Blick fällt auf sein unheimlich ausdrucksloses Gesicht, plastisch wie eine Totenmaske, doch erkenne ich darin nicht den Mann, der sich damals in unserem Wohnzimmer von den Strapazen seines Heldenschicksals erholte. Ich sehe nur die vernarbte Fratze eines Schurken, der mit seinen Saufkumpanen die Weltherrschaft an sich reißen wollte; ein Mann, der sabbernd auf dem schäbigen Sofa lag und so ätzend nach Tabak und billigen Fusel stank, dass es mich ekelte; der seine Tochter allein in der Schule sitzen ließ, während er das Geld seiner Frau verhurte; der mich im Stich ließ, als ich zusammengekauert im Bett lag und betete, dass er mich aus dem schwarzen Loch zöge, in das ich immer tiefer hinabglitt.

Ich höre, wie die Membran weiterhin Luft in seine Lungen pumpt. Seine Hände liegen noch zum Gebet gefaltet auf dem Bauch. Doch auch das wird ihm nicht mehr helfen, denn in dieser Welt ist kein Platz für Helden. Langsam breitet sich ein dunkler Schleier im Zimmer aus. Ich stehe auf. Schwarze Klauen tasten sich voran, greifen nach dem letzten Hoffnungsschimmer im Raum, tauchen ihn in Finsternis, verschlingen endgültig jeden Kontrast. Unschärfe zwischen mir und dem ewigen Nichts. Alles versinkt in der Nacht.





René Gröger, 1988 im Universum geboren, lernte in der ‚Hamburger Schule‘: „Was du auch machst, mach es nicht selbst“. Deshalb frisiert die KI seinen Lebenslauf, während er fleißig auf der Couch liegt und ohne Schreibwerkzeug sein Herz nicht entsaftet. Für seine bemühten Untaten schenkte man ihm den PERGamenta Literaturpreis. Irrtümlich wurde der Pionier der modernen Arbeitseinteilung auch beim Literareon-Wettbewerb geehrt, während die KünstlerGilde Esslingen seinen Buchstabensalat mit preiswürdiger Kunst verwechselte. Die Jury des SpaceNet-Awards überschüttete ihn zudem mit Reichtum für das, als Collage missdeutete, Chaos auf seinem Schreibtisch. Bis zum offenen Ende wird sich der Privatier wider Willen nun als Journalist und Autor bei der Gruppe ‚Jung Wien ’14‘ in eine wahr gewordene Tragikomödie hineinträumen. Eine Lebenslüge wie fruchtbare Bleiwüsten zwischen Hamburg, München und Wien.

Sein neueste Werk „Garantiert geiler als dein Leben“

https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/A1073034317






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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