Waldfund

Gerd Jenner für #kkl45 „Mutter, Vater, Eltern“





Waldfund

Wenn man im Wald spazieren geht, muss man offenbar auf alles gefasst sein. Seit letzten Herbst ist mir das klar geworden. Naja, so spektakulär war es auf den ersten Blick gar nicht, was ich damals erlebte, aber eben nur auf den ersten Blick. Ein Autowrack fand ich. Der Wagen hing ein wenig schief an einer Böschung, die mit Büschen und Unterholz bedeckt war. Ich blieb stehen und – wurde unversehens wieder zum Kind. Und das witterte Abenteuer! Etwas wartete darauf, entdeckt zu werden. Also: Hin und rein in das Ding! Überbordende Neugier erwachte und ein Bewusstsein, dass die Welt unendliche Wunder bereithielt. Regungen der unversehrten Kinderseele, die arglos und schwerelos durch die Tage treibt und nichts unternimmt, ohne sich ganz hineinzugeben. Nicht voraus denkt sie, grübelt nicht an Vergangenem herum, ist vollständig im Jetzt und feiert den Augenblick. Das konnte ich früher einmal, ganz früher. Und an diesem Herbstnachmittag konnte ich es wieder.

Einen VW Transporter hatte ich da im Wald gefunden. Bulli sagt man dazu. Kastenwagen. Der Rost hatte die ursprüngliche Farbe fast komplett ausgelöscht. Langsam ging ich näher. Immer mehr schwand der Abgrund zwischen einst und jetzt, zwischen dem Kind, das ich gewesen war und dem Kind, das ich noch sein konnte. Ich war auf eine Weise hellwach, wie sie nur Kinder kennen. Es ging mir nicht ums Betrachten, es ging ums Betasten, Begreifen, Betreten. Hineingehen in das Wunder. Das war mein Ziel. Das Unbeschreibliche, das Herrliche, lag im Erforschen. Diese Fahrzeugruine war Zugang in eine Anderswelt, die nur sehr junge Menschen betreten können oder sehr phantasiebegabte. In meinem Fall war etwas von der herrlichen Unbeschwertheit der frühen Jahre zurückgekehrt. Das geschieht dann und wann. Auf den Auslöser kommt es an. Und den hatte ich. Man nennt ihn den Bulli. Zum Glück ging die Fahrertür noch auf. Kreischend protestierten die rostigen Scharniere, aber dann schwang ich mich hinauf. Als Kind war es anstrengender gewesen. Wie, als Kind? Was hatte ich mit diesem Wrack zu schaffen? Der Erwachsene meldete sich zurück. Kritisch und nörglerisch wie immer. Aber dann sah ich das Armaturenbrett und den schwarzen Griff darunter. Tief ausatmend ließ ich mich auf das fallen, was vom Sitzpolster noch übrig war und streckte die Hand aus. Dieser Griff! Erinnerungen. Mehr noch. Es war wie damals. Es war damals. Wann genau? Egal, ohne Bedeutung. Die Zeit gab es nicht mehr. Aber zur Schule ging ich noch nicht.

Mein Vater war mit einem grauen Bulli-Kastenwagen nach Hause gekommen. Vom Kraftwerk, wo er arbeitete. Wir selbst hatten kein Auto. Ebenso wenig wie ein Telefon oder einen Fernseher. Meine Kindheit war etwas Besonderes. Ein wenig aus der Zeit gefallen, aber schön. Ich mochte Autos, kannte mich aus. Die Marken waren mir sehr geläufig und immer wieder fragte ich meine Mutter ab, die kaum den Unterschied zwischen einem Opel Rekord und einem Mercedes SL kannte. Vater war auf dem Laufenden. Von ihm hatte ich mein Wissen. Er hatte den Lieferwagen nicht abgeschlossen. Nein, er war nicht zum Essen heimgekommen, wie er es manchmal tat, wenn er mit dem Firmenauto unterwegs war. Es ging um eine Kleinigkeit. Etwas holen oder vorbeibringen, was weiß ich. Jedenfalls stieg ich in den Bulli. Ließ mich tief ausatmend in den Sitz fallen. Blitzschnell waren die Hände am Lenkrad. Riesig war das. Und ziemlich weit oben. Den Blinker betätigte ich, die Scheinwerfer, die Scheibenwischer. Ja, und dann war da dieser Griff. Unterhalb des Armaturenbrettes ragte er mir entgegen. Schwarz und geheimnisvoll. Zaghaft berührte ich ihn. Er fühlte sich kalt an. Die Oberfläche etwas rau. Dann legte ich meine ganze Hand darauf, umfasste ihn mit der selbstverständlichen Wichtigkeit kindlichen Forscherdrangs.

Im Wald, an diesem Herbstnachmittag, tat ich dasselbe wieder. Mit der rechten Hand musste ich das Lenkrad loslassen, um den Griff anfassen zu können. Ziehen, drücken, nichts passierte. Drehbewegungen aus dem Handgelenk verursachten lediglich ein müdes Knirschen, weiter nichts.

Das Knirschen ging in ein deutliches Knacken über und der Griff wurde mir aus der Hand gerissen, schnellte in Richtung Instrumententafel. Die Metallstange, an der er befestigt war, wurde kürzer. Der Wagen begann zu rollen. Mein Elternhaus lag am Hang. Und der Wagen begann zu rollen! Ich war fünf und fühlte ein Stechen ganz tief im Bauch. Etwas Schlimmes geschah. Es ging abwärts. Weiter unten gabelte sich die Straße. Geradeaus war eine wirklich sehr steile grasbewachsene Böschung. Keine idealen Voraussetzungen für ein Kindergartenkind, selbstständig eine Handbremse zu lösen.

Alles war wieder da. Der Wald, der Rost war verschwunden. Das Kind in mir war ins Schockstarre gefallen. Alles ging so schnell. Angst. Nur Angst. Und dann Papa.

Er war über den Gartenzaun gehechtet, konnte gerade noch aufspringen und dem Drama ein Ende machen. Sein Griff zur Handbremse war meine Rettung. Seit damals hatte ich die kindliche Gefühlsachterbahn nicht mehr erlebt. Die Geschichte war kaum noch präsent, im Alltag untergegangen. Die Umarmung, meine Tränen. Hatte Vater auch geweint? Nach einer Weile sagte er leise: „Es ist gut. Jetzt weinst du nicht mehr.“ Einer seiner typischen Sätze. Er sprach nicht viel und wenn, dann meist Sätze in Präsens. Tatsachen. Auch wenn es um die Zukunft ging. Es wirkte. Meine Umarmung wurde noch ein wenig kräftiger. Aber nach einem tiefen Seufzer versiegten meine Tränen, stellte sich das Gefühl tiefster Geborgenheit ein. Alles war wieder da.

Wie lange habe ich noch dagesessen; in der Bulliruine, der Welt meiner Erinnerung? Wie lange bin ich Kind gewesen? Das spielt gar keine Rolle. Aber seit damals ist etwas Kindheit zurückgeblieben. Die Entdeckerlust hatte nicht nur eine Tür zur Vergangenheit aufgetan. Es war mehr geschehen als das Ausleben kindlichen Spieltriebes. Der verwitternde Transporter hatte mich meinem Vater wieder nähergebracht.

Papa konnte alles. Daran gab es keine Zweifel. Warum auch? Ich vertraute ihm bedingungslos. Er war da, wenn ich ihn brauchte. Meine Spielsachen reparieren, meine kleinen und doch so unendlich großen Kinderprobleme lösen, immer wieder meine Tränen trocknen. All das konnte er. Immer wusste er eine Antwort. Auch später noch, als ich Jugendlicher war und junger Erwachsener. Er machte für mich Pläne und ich lehnte mich zurück und tat, was er sagte. So wurde er buchstäblich zu meinem Lebensgestalter, zu meinem Lebensbestimmer auch. Nicht immer zum Vorteil, beileibe nicht. Es hat lange gedauert, bis mir seine Dominanz bewusst wurde. Noch länger, bis ich sie in Frage stellte. Nein, Papa kann nicht alles. Es gab viele heftige Diskussionen. Aber substantiell änderte sich wenig.

Dann kam die Abnabelung. Partnerwahl, Familie, alles, was damit zusammenhängt: Darauf hatte er keinen Einfluss. Das war meine Welt. Kein Bruch aber Abstand. Wir gingen auseinander. Die Verwerfungen und Verkrustungen blieben. Ebenso die Mauer des Unausgesprochenen, die nach wie vor zwischen uns stand. Und jetzt war alles wieder da. Aber bleiben konnte es so nicht.

Der Bulli sollte helfen. Nicht der Kastenwagen aus dem Kraftwerk, nicht der rostige Trümmerhaufen im Wald. Diesmal ein Camper. Vom gleichen Typ wie die anderen zwei. T2a. So nannte sich das Modell. Und es gelang mir, genauso einen zu leihen. Ein sehr hübsches Exemplar von 1970. Wir mussten reden. Und Bulli fahren. Unbedingt. Vater war nicht mehr der Jüngste. Wenn etwas geschehen sollte, dann sofort. Nicht einen Augenblick hatte ich gezweifelt, ob mein alter Herr mitkommen würde. So gut kannte ich ihn, dass er ungewöhnlichen Aktionen nie abgeneigt war.

Über vieles haben wir geredet auf unserer Tour durch den Schwäbischen Wald. Ein ganzes Wochenende. Haben manche Lücke geschlossen. Erinnerungsstränge miteinander verbunden. Denn bald wurde klar, wie wenig wir voneinander wussten. Unsere Lebenslinien waren mehr als nötig auseinandergedriftet. Das behoben wir. Und wir lachten viel. Hatten unglaublich viel Spaß. Spaziergänge gab es natürlich auch und abends suchten wir uns ein schönes Plätzchen. Da, wo es uns gefiel. Wir lernten uns kennen auf eine zutiefst ehrliche und beruhigende Art. Bei ihm fiel die Verantwortung weg. Er meinte nicht länger, hilfreich in mein Leben eingreifen zu müssen. „Ich weiß, du schaffst es“, meinte er trocken. Und auf meiner Seite gab es diesen bescheuerten Rechtfertigungsdruck nicht mehr, der vieles verdorben hatte in unserer Vater-Sohn-Beziehung. Wir waren beieinander, wir gehörten zusammen und gingen doch unsere eigenen Wege. Es war ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Viel besser.

Mein Erwachen war ein eigenartiger Vorgang. Als ich in der Realität aufsetzte, war es mir wieder voll bewusst: Vater lebte schon seit Jahren nicht mehr. Es hatte keine Bullitour durch den Schwäbischen Wald gegeben. Alles nur Traum. Aber der wichtigste meines bisherigen Lebens. Die Schatten, die hartnäckig meine Erinnerung umflattert hatten, waren verschwunden. Er hatte mir damals, als ich mit fünf die Handbremse seines Dienstwagens gelockert hatte, höchstwahrscheinlich das Leben gerettet, hatte mir wundervolle Momente voll Liebe und Vertrauen geschenkt, mich eingeengt mit seiner Sturheit und seiner Strenge, seiner unbeugsamen Eindeutigkeit. Er war ein Mensch mit guten und schlechten Seiten. Ein Mensch, der nicht alles konnte, der mir aber als Kind jahrelang alles bedeutete. Er war mein Vater und das ist gut so. Meine Kinderseele hatte Nahrung bekommen, seit ich den Bulli im Wald entdeckt hatte. Sie konnte wieder aus ihrer Erstarrung herauskommen und in totaler Gegenwärtigkeit die wichtigen Dinge tun, die im Augenblick lagen. Auch Kinder sind von einer unbeugsamen Eindeutigkeit. Wie mein Vater. Ja, ich glaube, er hat seine Kinderseele nie ganz verloren. So etwas sollte man auch tunlichst vermeiden. In dieser Hinsicht besteht bei mir keine Gefahr. Nicht nach den Erlebnissen seit meiner Entdeckung, damals im Herbstwald. Eine Entdeckung, die zur Erinnerung geführt hatte und schließlich zur Versöhnung. Es bleibt dabei: Wenn man im Wald spazieren geht, muss man auf alles gefasst sein.




Gerd Jenner

Geboren 1969 in Ludwigsburg lebe ich heute mit meiner Familie in Leonberg bei Stuttgart und schreibe seit vielen Jahren Kurzgeschichten, Erzählungen, Gedichte und Ausarbeitungen zu kulturhistorischen Themen. Zuletzt ging es um ein Typoskript Hermann Hesses. Von Beruf bin ich Verwaltungsangestellter und Lokalhistoriker.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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