Ein und alles

Daria Wendland für #kkl45 „Mutter, Vater, Eltern“




Ein und alles

Jakobs Kindheit im kleinen Dorf am Waldrand verlief weitgehend harmonisch und unbeschwert.

Obwohl sein Vater in einem tragischen Unfall starb, konnte Jakob im damaligen Alter von 13 Monaten, sich nicht an ihn erinnern und nicht wirklich um ihn trauern. Nur Vaters Geigenklänge blieben ihm in der Seele und er fühlte sich überall hingezogen, wo er die Geigenmusik hörte.

Seine Mutter Anke war alles was er noch hatte. Anke hat versucht dem Sohn seinen Vater so gut wie möglich zu ersetzen.

So war sie ihm Mutter und Vater zugleich, wahrlich war sie Jakobs Eltern. Anke hat wie ein richtiger Kerl angepackt und konnte dem kleinem Familienleben die Geborgenheit und Stabilität sichern.

Sein bester Spielkamerad war der Bernhardinerhund Murio mit dem er den Wald jeden Tag durchforstete und trockene Äste für das abendliche Lagerfeuer mitbrachte. An vielen Sommertagen hat Jakob das Lagerfeuer aufbereitet und sein Lieblingsbrot am Spieß gebraten während Anke den Kartoffelsalat mit Tomaten, Gurken und Radieschen auf den bunten Keramiktellern servierte.

Auch Murio war mit den Snacks zufrieden und zog seine Pfote immer wieder hoch um neue Leckereien zu erbetteln.

Nach dem Essen spielte Jakob seine kleine Flöte und Anke schüttelte die alte Tambourine, welche Steven aus Indien mitgebracht hatte. Am Lagerfeuer konnte Anke ihre Tränen oft nicht verbergen und Jakob ahnte, dass sie ihren Steven immer noch sehr vermisst.

Steven war ein hübscher langhaariger Amerikaner der vor 15 Jahren in Berlin auf der Durchreise nach Indien war.

Die beiden haben sich im Café am Flughafen kennengelernt, wo Anke als Studentin gejobbt hatte. Steven hat sie fast jeden Tag aus Indien angerufen nur um ihre warme Stimme zu hören.

Als er nach einem Monat aus Neu Delhi zurückkam, blieb er ebenso lange bei Anke in Berlin, um seine frische Liebe  festzuhalten.

Nachdem Anke schwanger wurde, ist Steven nach Atlanta geflogen, um sein Hab und Gut mitzubringen. Anke stand damals vor ihrer Abschlussprüfung als Veterinärin und so konnte sie die Trennung mit Steven gut verkraften. Nach dem Studium und zweimonatigem Praktikum in einer Tierarztpraxis, musste Anke nach Eberswalde zu ihrer Mutter fahren, die gerade nach einem Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert wurde und kurz danach verstarb.

Anke hatte es sehr bedauert, dass ihre Mutter nicht einmal erfahren hat, dass sie ein Baby erwartet und dass ihr Kind keine Großeltern haben wird. Denn der Vater von Anke ist bereits vor Jahren verstorben. Als Einzelkind hatte sie keine Geschwister und kannte nur eine entfernte Verwandtschaft in Hamburg mit der sie aber keine großen Kontakte gepflegt hatte.

Zum Glück aber hatte sie nach dem Tod ihrer Mutter eine nichtkleine Erbschaft bekommen mit einem geräumigen Ziegelhäuschen und Garten am Waldrand, die ihre Existenz in dieser schwierigen Phase gesichert hat. Als Steven wieder bei ihr war, haben sich die beiden im Familienhäuschen gemütlich eingerichtet. Die kleine Scheune haben sie in eine funktionelle Tierarztpraxis umgebaut und noch vor der Geburt des Sohnes feierlich eröffnet.

Besonders Steven hat alle Gäste mit seinem Geigenspiel begeistert, so dass ihm gleich mehrere Angebote entgegen kamen, auf Kirchen- und Dorfveranstaltungen Geige zu spielen.

Steven konnte auch als Lehrer in der Schule englische Sprache unterrichten.

Auch die Tierarztpraxis bekam immer wieder vierbeinige Patienten und viel Anerkennung.

Als Jakob geboren wurde haben die jungen Eltern standesamtlich geheiratet und ihr Leben schien einfach perfekt zu sein bis zu dem tragischen Tag.

An jenem Freitag hat Steven an einem abendlichen Kirchenkonzert teilgenommen und wurde später in die Pfarrei zusammen mit anderen Musikern zum Abendessen eingeladen. Er schien sehr glücklich zu sein und brach erst um 23 Uhr mit seinem Fahrrad nach Hause auf. Es war schon sehr dunkel und die Dorfstraße war kaum beleuchtet. Plötzlich hat er bemerkt, dass ein Auto so schnell hinter ihm fuhr, dass er nicht ausweichen konnte, zumal die Straße keinen Gehweg hatte, sondern einen Wassergraben. 

Als Steven aufwachte lag er im Krankenhaus und konnte sich an nichts mehr erinnern. Er hat seinen Körper gar nicht mehr gespürt, da er nach mehreren Operationen unter starken Schmerzmitteln ruhig gestellt wurde. Die inneren Verletzungen waren so gravierend, dass Steven bereits nach drei Tagen im Krankenhaus verstarb.

So hat der kleine Jakob schon mit einem Jahr seinen Vater verloren. Aufgrund des Unfalls und dem Tod von Steven, hat sich Anke tapfer in die Arbeit gestürzt, um die enorme Trauer zu überwinden und für ihren Sohn stark zu sein.

Anke hat versucht dem kleinem Jakob das Beste zu geben, damit er keinen Vaterverlust erleidet. Sie hat ihre Tränen und Traurigkeit immer so gut versteckt, dass Jakob völlig unbeschwert aufgewachsen ist. Zum dritten Geburtstag hat Anke ihrem Jakob einen kleinen Welpen Murio geschenkt, der ihren Sohn auf Schritt und Tritt begleitete. Eines Tages als Jakob 9 Jahre war, ist ihm  Murio im Wald entlaufen und war 2 Tage verschollen.

Das war für Jakob so ein traumatisches Erlebnis, dass er pausenlos geweint hat und nichts essen wollte. Er hatte keine Kraft in die Schule zu gehen und wollte keine Freunde sehen.

Als Anke den Hund endlich nach 2 Tagen im Gebüsch gefunden hat, war seine Pfote schwer verletzt. Nachdem sie Murio in ihre Praxis gebracht hat und die Wunde versorgt hat, konnte Jakob endlich langsam zu sich kommen. Seitdem hat Jakob seinen Murio nicht mehr aus den Augen gelassen. Dabei hat Jakob zum ersten  mal erkannt, wie wichtig und unersetzbar seine Mutter für ihn war.

Sie war auf einmal mehr als nur eine Mutter, sie war für Jakob

ein und alles.




Daria Wendland, geboren 1985, lebt und arbeitet als Bildende Künstlerin in München.

Nach dem Abitur 2006 hat sie an der Kunstakademie München Keramik und Bildhauerei studiert und im Jahr 2012 mit Diplom abgeschlossen. Seitdem arbeitet sie als freie Bildende Künstlerin und schreibt Kunsttexte und Aphorismen. 






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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