Scharf Sehen

Nikola Henze für #kkl45 „Mutter, Vater, Eltern“




Scharf Sehen

„Der Schnucki hockt auf dem Mucki und frisst ganz normal“, berichtet ein kleines Mädchen mit braunen oder dunkelblonden Haaren, höchstens sechs Jahre alt, seinen Eltern. Es muss ein Samstag- oder Sonntagmorgen sein, denn der Vater ist anwesend. Vielleicht wird sogar ausschließlich ihm berichtet, mindestens aber gleichwertig wie der Mutter. Wir wissen nicht, ob der Tonfall des Mädchens aufgeregt ist, verängstigt oder unbefangen, oder ob sogar Erleichterung mitschwingt, denn seine heutige Aufgabe, die Kaninchen zu füttern, ist geschafft. Genauso wenig wissen wir, ob das kleine Mädchen die vierjährige Sannie ist oder seine zwei Jahre ältere Schwester Caro. Was wir wissen, ist: Eines der beiden Kinder hat den Kaninchen an diesem Vormittag Salatreste, Maiskolben Karotten- und Kartoffelschalen gebracht, was die Schwestern immer abwechselnd machen. Jedoch nur eines der Tiere ist in der Lage, mit dem frischen Futter etwas anzufangen. Das andere rührt sich nicht. Es liegt reglos unter dem anderen.

Der Kaninchenstall ist in einem offenen ein-Meter-dreißig-mal-zwei-Meter-großen Schuppen untergebracht. Dort können die Kinder bei den Kaninchen sitzen, ohne nass zu werden, für den Fall, dass es regnet. Doch heute ist das Wetter trocken, die Luft erfrischend bis schneidend kalt. Der Winter befindet sich in den letzten Zügen. Das kleine Mädchen läuft, nachdem es das Futter in die Traufe gelegt und seine Entdeckung gemacht hat, auf roten Ziegelsteinen um den Rasen herum, zurück zum Haus. Dort zur Wohnzimmertüre, die in den Garten öffnet. Es bleibt vor der Glastüre kurz stehen, unter seinen Füßen befindet sich ein Gitterrost, das einen Lichtgraben für die Kellerräume überbrückt. Darauf klopft sich das Kind die Schuhe ab, bevor es den cremefarbenen Teppichboden im Wohnzimmer betritt, den Raum durchquert und den quadratischen Flur dahinter erreicht, rechter Hand die Türe zur

Wohnküche. Wahrscheinlich steht sie offen, die Eltern von Caro und Sannie frühstücken an den Wochenenden gerne spät und ausgiebig.

Der Vaterkommt in den Flur und hört sich die Nachricht seiner Tochter an. Augenblicklich, ohne Rücksicht darauf, dass es noch winterlich kalt ist und er keine Jacke trägt, sondern nur ein Hemd mit Pullunder zu Cord-Hosen, und ohne etwas zu sagen, nimmt er denselben Weg, den seine Tochter gerade gekommen ist, nur in entgegengesetzter Richtung. Er läuft durchs Wohnzimmer in den Garten, auf den roten Pflastersteinen entlang, dann ein paar Schritte über den Rasen, betritt den Schuppen, beugt sich hinunter zum Stall. Die Zeit, die verstreicht, bis er zurückkommt, misst niemand. Der Vater ist irgendwann wieder da, steht im Flur des Hauses, und sagt zu einem oder beiden Mädchen: „Beide Kaninchen sind tot.“

Da keines der Kinder erkennbar reagiert, räuspert sich der Vater und fügt mit seiner eher hohen, guttural klingenden Stimme hinzu:

„Kaninchen leben nicht so lange wie Menschen.“

Sannie hört den Vater sprechen, ohne wirklich im Raum zu sein.

„Lasst uns heute etwas Besonderes machen“, schaltet sich die Mutter ein, „wir könnten in die Stadt fahren und einen Kinofilm schauen.“

Wahrscheinlich ist es nicht die jüngere Sannie, die daraufhin mit der Mutter zusammen nach Filmen sucht, die im Kino- und Fernsehprogramm der Tageszeitung vorgestellt werden. Sie kann nämlich noch nicht richtig lesen und schreiben. Vor kurzem hat sie aber aus dem Spielzeugkatalog mit Kasperlefiguren ihr erstes Wort in Großbuchstaben identifiziert: Da steht eindeutig unter der gehörnten Plastikfigur, in die man mit einer Hand hineingreifen kann, „TEUFEL“. Natürlich verschweigt Sannie ihrem Vater, dass ihr erstes Wort das Gegenteil von Gott ist, aber auch allen anderen in der Familie, sogar ihrer Schwester. So erfährt niemand, dass Sannie sich selbst ein bisschen Lesen beigebracht hat während der vielen Stunden, die sie nach dem Mittagessen im Bett liegen soll, um ihren Schädelbruch auszukurieren.

Am Nachmittag fährt die Mutter mit ihren Töchtern in die Stadt, die Kinder sehen den ersten Kinofilm ihres Lebens: The Kid, von und mit Charlie Chaplin. Der melancholische Grundton des Films löst die Aufregung des Tages in Tränen auf, jedenfalls bei der Mutter und wohl auch bei Caro, während der Vater nicht dabei ist und Sannie noch zu klein ist für gespielte Gefühle. Sannie findet den Film einfach „schön“, weder lustig noch traurig. Die ausdruckstarken Gesichter der Menschen und die Gesten, die sie machen statt zu reden, gefallen ihr. Genauso der schwarze Hut, der weder rund noch kantig ist, und zu dem traurigen Mann dazugehört wie eine Frisur.

Sandra ist mit Nordic-Walking-Stöcken im nahegelegenen Park unterwegs. Der Winter nimmt sich erstmals ein wenig zurück. Nicht dass es warm wäre an diesem letzten Februartag, doch das Licht hat sich intensiviert, die Tage werden heller. Vielleicht wirkt es auch nur so, weil das Licht länger am Tag wahrzunehmen ist. Während Sandra im Morgenlicht den Park durchkämmt, kommt ihr eine Szene mit ihrem Vater in den Sinn. Das Geschehen ist nicht neu, nicht plötzlich erinnerbar, war nie vergessen. Doch mit einem Mal ist die Vergangenheit scharf zu sehen, und Sandra schaut sie furchtlos an:

Sie ist ungefähr elf Jahre alt und kann nicht schlafen, was seit ihrem Autounfall häufig vorkommt. Die Mutter ist längst zu Bett gegangen. Auch Caro schläft. Seit kurzem haben die Mädchen eigene Zimmer im Dachboden. Sannie

tapert nach unten und setzt sich neben den Vater auf die Couch. Der Vater hat nichts dagegen. Was im Fernsehen läuft, ist egal, sowohl Sannie als auch dem Vater, der nach dem Rotwein die dritte Flasche Bier aufmacht. Es ist Nacht geworden. Um diese Zeit schaut er Fernsehdiskussionen oder Nachrichten. Wenn Beunruhigendes aus der Welt berichtet wird, findet der Vater die Sache meist nicht so dramatisch. Denn nichts reicht an den Terror des II. Weltkriegs heran. Seit er seine Töchter nicht mehr schlägt, erzählt er der ganzen Familie von seinen Kriegserfahrungen, bevorzugt beim Abendbrot. So wissen die Töchter, dass ihr Vater die letzten eineinhalb Jahre des „1000-jährigen Reiches“ jede Nacht im Luftschutzbunker verbrachte. Da war er keine fünfzehn Jahre alt. Tagsüber ging er zur Schule, schlachtete Kaninchen, holte Mehl aus dem Nachbardorf, wich Tieffliegern radelnd aus… Was sollte jemanden wie ihn noch erschrecken? Atomare Waffen? Reine Drohgebärden!

Wie sehr der Vater damit einverstanden ist, dass seine Tochter mit ihm fernsieht, zeigt er jetzt, indem er seinen Arm um Sannie legt. Doch statt auf der knochigen Schulter seiner Tochter anzukommen, landet er auf ihrer früh entwickelten Brust. Augenblicklich ist Sannie am ganzen Körper gelähmt, sie kann sich der Berührung des Vaters nicht entziehen, ihn nicht abschütteln. Sie ist nicht in der Lage etwas zu fühlen. Nur ihr Verstand arbeitet weiter wie eine Maschine, die sich nicht selbst abstellen kann. Es bleibt ihr nichts anderes übrig als zu denken: Es tut nicht weh… Er tut mir nicht weh… Mein Vater tut mir nicht weh… Irgendwann zieht der Vater seinen Arm zurück, die Verbindung zur Realität ist wiederhergestellt. Er räuspert sich:

„Entschuldige, äh, das war ein Versehen, im Dunkeln habe ich jetzt nicht gesehen, dass… Du weißt schon…“

Sannie weiß schon… Im Prinzip ist es das Gleiche wie mit den Kaninchen. Eins ist von selbst gestorben, das zweite wurde erschlagen. Doch der Vater ist unschuldig, und das Kind, das von einem toten Kaninchen erzählte, irrte sich eben. Und jetzt hat sich halt der Vater geirrt mit seiner Hand an ihrer Brust. Den falschen Weg im Dunkeln eingeschlagen. Sich sogar entschuldigt. Väter haben jedes Recht der Welt zu irren.

An diesem ersten Tag eines erahnbaren Frühlings begreift Sandra endlich wie sie die geworden ist, die sie ist. Klaren Kopfes, beinahe beschwingt, läuft sie mit ihren Nordic-Walking-Stöcken noch eine Weile durch den Park.

Am nächsten Morgen geht Sandra wieder Nordic Walken. Sie kommt nur bis zum Spielplatz. Sie muss sich auf eine der im großen Kreis angeordneten Bänke setzen, die Sonne scheint. Eigentlich ist es noch nicht warm genug, um draußen zu sitzen. Doch Sandra hat keine Wahl, sie kann nicht mehr laufen, ihre Beine sind bleischwer und kraftlos. Sie atmet dünn und schnell. Sie fragt sich, ob sie sich gestern bei der Gymnastik übernommen hat, ihre Oberarme schmerzen wie unter Muskelkater, im oberen Rücken ätzendes Sodbrennen, sie muss sich übergeben. Sandra ruft ihre Tochter an und bittet sie, sie mit dem Auto aus dem Park abzuholen. Die junge Frau lässt ihre Mutter sofort in die Klink bringen. Dort wird ein Herzkatheter1 durchgeführt und ein lebensrettender Stent2 gesetzt. Eine Woche später werden im nächsten Herzkatheter weitere Stents gesetzt. Eine dritte Untersuchung ist geplant, wenn sich Sandra von ihrem Herzinfarkt etwas erholt hat.

Therapeut und Patientin haben ihre Maske abgesetzt, die Pandemie ist vorbei.  Sandra freut sich unbändig, das Gesicht ihres Arztes wiederzusehen, auch wenn sie feststellen muss feststellt, dass er ihrem Vater frappierend ähnlichsieht. Nicht nur die Gesichtszüge gleichen sich, das Haar des Therapeuten ist genauso dunkel und glatt, seine Stimme ebenso kehlig wie die des Vaters und schrappt oft am Rande der Heiserkeit entlang. Im Blick unterscheiden sich die Männer.Die blaugrauen Augen des Arztes liegen unbedarft an der Gesichtsoberfläche, während Sandras Vater zeitlebens mit wässrig-blauen Augen aus tiefen schwärzlich geränderten Höhlen blickte.

Wir wissen nicht, wie lange Sandra redet. Doch es muss tiefe Nacht sein, als sie anfängt, ihrem Therapeuten vom Vater zu erzählen.


1 Herzuntersuchung mit der Möglichkeit, verengte Gefäße zu weiten und mit Metallzylindern2 zu stabilisieren.







Nikola Henze wurde 1968 in München geboren. Sie studierte Malerei an der HDK Berlin bei Georg Baselitz mit dem Abschluss als Meisterschülerin. Parallel zum Studium begann sie zu schreiben, zu veröffentlichen und auszustellen. Sie arbeitete als Kulturjournalistin für verschiedene Medien, z. B. 8 Jahre für die Berliner Morgenpost. Nach Veröffentlichungen von Erzählungen und Essays hat sie ihren ersten Roman „bei null“ fertig gestellt. 2022 veröffentlicht das Grazer Feuilleton-Magazin „schreibkraft“ Henzes Prosa in Zeiten von Corona: „Ohne ihre Angst kann er nicht existieren, nicht mal im Traum“ (ISBN: 978-3-902106-32-2). Derzeit schreibt sie an einem Text mit dem Titel „Hingabe“. Seit 2005 lebt sie in Nürnberg. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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