Frank Schmitter für #kkl45 „Mutter, Vater, Eltern“
Wie mein Vater Todesnachrichten überbrachte. Eine kleine Idylle
Fangen wir klein an. Fangen wir früh an.
Eine Familie mit drei Kindern. Sonntags. Frühstück. Das Sonntagsfrühstück, das uns alle um einen Tisch versammelte. Drei Söhne, Orgelpfeifen im Abstand von nur fünf Jahren, auf der Sitzbank mit Plastiküberzug, die Tischdecke ebenfalls aus Plastik, weil uns die Becher mit Kakao oder Tee aus den Händen glitten oder der Nebenmann uns in die Rippen stieß oder der Eierbecher umfiel. „Kannst du nicht besser aufpassen?“, Leitsatz jener frühen Jahre unserer Mutter, die sich in ihrer Schürze kaum gesetzt hatte, als sie schon wieder aufstehen musste, um nach einem Lappen zu greifen. Vater saß am Kopfende. Schwieg. Wartete auf den Moment, in dem er aufstehen und sich mit der Zeitung ins Wohnzimmer zurückziehen konnte oder im Sommer auf die Terrasse, nach der Lektüre den Blick in den Garten versenkt, in die Bäume, Sträucher und Blumenbeete, die nicht mit ihm spielen, malen, erzählen wollten, die er nicht auf seinem Pferderücken über das sorgsam gemähte Gras tragen musste.
An einem dieser endlosen, endlos aneinandergereihten Sonntagmorgen die erste Todesnachricht: „Ach ja. Euer Kuka ist tot.“ Kuka, die Katze, die eines Tages plötzlich im Garten auftauchte, sich scheu in den Sträuchern versteckte, sich vorsichtig zeigte, sich wieder versteckte, sich wieder zeigte, aber nicht berühren ließ, bis unsere Mutter schließlich eine Schale mit Fleischresten aufs Gras stellte und sich wieder zurückzog. Mutter nannte sie „Kuka“, weil Torben, der jüngste von uns dreien, plötzlich den Arm hob und rief: „Guck’ mal.“ Kuka wurde nicht unsere Haus-, sie wurde unsere Gartenkatze. Meine Eltern waren sich früh einig geworden, keinen Hund, keine Katze, keine Hamster, keine Wellensittiche in ihren Räumen zu dulden. Nichts, was lebte, Haare, Federn und Fäkalien hinterließ. Aber Kuka im Garten wurde geduldet und gefüttert. Eher schmächtig, rotes Fell mit weißen Flecken am Hals. Manchmal zeugten Wunden und Striemen von heftigen Territorialkämpfen. Sie kam meistens am Nachmittag, legte sich auf den Rasen, ließ sich von uns dreien streicheln, bevorzugte niemanden von uns, so sehr jeder von uns um sie buhlte, kam bei Regen und in den kälteren Monaten unter die überdachte Terrasse, aß, ließ sich streicheln und tauchte wieder ab. Kuka war unsere Katze, unabhängig davon, wie viele Gärten, wie viele Futterstellen sie noch in petto haben mochte. Sie gehörte zu uns, bei den anderen war sie vorübergehend zu Gast.
„Ach ja. Übrigens. Eure Kuka ist tot.“ In eine Pause gesprochen. Lakonisch, ohne die Stimme zu erheben. Eine simple Information, die sich aus Worten und die wiederum aus Buchstaben zusammensetzte. Dann wieder eine Pause. Griff in den Brotkorb. Ein Schluck Kaffee. Das Messer stach in die Butter.
Tatsächlich war Kuka einige Tage nicht da gewesen. Was immer wieder mal passierte und wir zu akzeptieren gelernt hatten. Deshalb traf uns die Nachricht unvorbereitet, ein Schlag in drei Mägen. Unsere Mutter berichtete schließlich, dass Kuka überfahren worden war, nachts, als sie eine Straße in unserer Siedlung überqueren wollte. Keine weiteren Details. Unser Vater setzte sich mit der Zeitung ins Wohnzimmer.
Jahre später. Wir gingen mittlerweile aufs Gymnasium, in drei aufeinander folgende Klassen. Die Sonntagsfrühstücke blieben eine Institution, obwohl mein älterer Bruder, der an Samstagabenden nun bis Mitternacht ausgehen durfte, sie zu hassen begann, mit kleinen Augen, nach Tabak riechend, lustlos und mundfaul in seiner Kaffeetasse rührte. Am anderen Ende der Siedlung wohnte die früh verwitwete Mutter unseres Vaters, die wir Jungs mehr oder weniger unregelmäßig und mehr oder weniger unabhängig voneinander besuchten. Ich vermutlich am häufigsten, spontan nach der Schule oder vor dem Sporttraining oder nach dem Unterricht in der Musikschule. Ich lehnte das Fahrrad an die Mauer des kleinen Backsteinhäuschens und klingelte. Es war egal, wann ich kam. Meine Großmutter machte schwarzen Tee – den sie selbst mit Milch und viel Kandiszucker trank – setzte sich in den Ohrensessel neben dem Fernseher, griff nach ihrem Strickzeug und hörte zu. Phasenweise habe ich ihr in einer halben Stunde mehr erzählt als meinen Eltern in einem halben Jahr. Sie hörte einfach zu. Nie glaubte ich, mich rechtfertigen oder auch nur erklären zu müssen.
Sie kam eher selten in unser Haus, was insoweit erstaunlich ist, da mein Vater ihr einziges Kind war. Sie kam zu seinem Geburtstag, zum Geburtstag meiner Mutter, zu unseren Geburtstagen und am ersten Weihnachtstag. Mein Vater umarmte sie nicht zur Begrüßung, gab ihr lediglich die Hand und redete sie mit ihrem Vornamen an. Er blieb auf eine unverbindliche Art freundlich. Wenn sich meine Großmutter in der Diele wieder ihren Mantel anzog, glaubte ich, Tränen in ihren Augen wahrzunehmen. Jedenfalls nahm sie ein Taschentuch heraus und meinte, da sei ihr wohl etwas ins Auge geflogen.
In den Monaten vor meinem Abitur ging es ihr sichtbar schlechter. Sie verlor rapide Gewicht, weigerte sich aber, zu einer gründlichen Untersuchung ins Krankenhaus zu gehen. Ihr Hausarzt kam regelmäßig, trank Tee und stieß auf taube Ohren. Die Prüfungsvorbereitungen nahmen mich in Anspruch, gleichzeitig spürte ich, dass sie ein willkommene Ausrede fungierten. Ich hatte Angst, jemanden sterben zu sehen in einer Phase, die traditionell als Vorbereitung dafür galt, selbst ins wirkliche Leben zu gehen.
Und genau am ersten Sonntagsfrühstück nach der letzten mündlichen Prüfung sagte mein Vater: „Ach ja. Übrigens. Eure Großmutter ist gestorben.“
Lakonisch. Ohne die Stimme zu heben. Ohne jemanden anzuschauen.
Er sagte nicht: „Meine Mutter.“ Er reichte uns seine eigene Mutter gewissermaßen als unsere Großmutter über den Tisch. Mehr sagte er nicht, erzählte auch nichts zu ihrer Beziehung oder zu seinem Vater in den folgenden Wochen, in denen er die Beerdigung organisierte und ihr kleines Haus für den Verkauf leerräumte. Er nahm keine persönlichen Gegenstände an sich mit Ausnahme weniger Fotos, die meine Mutter in unsere Familienalben einlegte.
Mein älterer Bruder diente zu dem Zeitpunkt bereits bei der Bundeswehr, Torben verschanzte sich hinter seinen Schulbüchern. Ich steckte in der großen Luftblase zwischen Abitur und Studium und war derjenige, der das Haus öffnete, wenn die Caritas oder die evangelische Kirchengemeinde Möbel, Kleidung oder Bettzeug abholte. Einmal kam mein Vater dazu, weil er etwas unterschreiben musste. Er setzte sich in den Ohrensessel, und als die Leute die Haustür hinter sich zugemacht hatten, erzählte er unvermittelt, dass er in der letzten Phase des Krieges eine Todesnachricht zu überbringen hatte. Sein kleiner, versprengter Trupp war in Bayern stationiert, wo die Amerikaner bereits auf dem Vormarsch waren. Sie kamen in ein Dorf, und seine Kameraden – zwölf, maximal fünfzehn – versteckten sich am Dorfeingang in einem Keller. Mein Vater sollte etwas zu essen, zu trinken und zu rauchen besorgen. Als er nach einer Stunde zurückkam, lebte keiner mehr von ihnen: Die Amerikaner hatten sie entdeckt und einfach eine Handgranate in den Keller geworfen. „Ich nahm ihre Erkennungsmarken und ging einfach in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich war noch keine neunzehn Jahre alt und trug einen Haufen Blech von Leuten, die gestorben waren. Wenn der Offizier einen anderen für die Besorgungen losgeschickt hätte, wäre von mir nicht mehr geblieben als eine kleine Marke aus Metall. Ich hatte Freunde unter meinen Kameraden. Wir waren miteinander verbunden, verschweißt in diesem fürchterlichen Schicksal. Näher als ihnen kam ich niemandem mehr. Am zweiten Tag fand ich meine Kompanie wieder. Ich ging in die Schreibstube und legte die Marken auf den Tisch, als wäre es Haufen Unterlegscheiben.“
Jahre vergingen. Torben ging zum Studium in die USA und blieb dort. Mein älterer Bruder wurde Lehrer, lernte eine Kollegin aus Kiel kennen und ließ sich dorthin versetzen, knapp 500 Kilometer entfernt. Sie gründeten eine Familie und kamen uns nur selten besuchen. Torben nahm sich ein knappes Jahrzehnt, bis er zum ersten Mal wieder über den Ozean flog. Es war das Jahr, in dem unsere Mutter unseren Vater verließ. Unspektakulär, könnte man sagen. Sie meinte, sie und unser Vater seien wohl grundsätzlich zu verschieden, sie lebten „emotional in anderen Welten“, wie sie sich ausdrückte. Was sie wohl tatsächlich meinte, war, dass mein Vater augenscheinlich in gar keiner emotionalen Welt lebte. Sie nahm sich eine kleine Wohnung im Zentrum, unser Vater half ihr beim Umzug und besuchte sie ziemlich regelmäßig, soweit es seine Zeit zuließ. In den fünfziger Jahren hatte er eine Eisenwarenhandlung gegründet, die in den ersten beiden Jahrzehnten florierte und seine ganzen Kräfte absorbierte. An den Wochenenden werkelte er meistens in seinem Hobbyraum und testete die Geräte aus, die er seinen Kunden verkaufte. Vergeblich versuchte er, uns, seine drei Jungs, für sein Metier zu begeistern. Wir erwiesen uns gleichermaßen als stocktaub für Dübel, Schraubenzieher, Nägel, Scharniere, Spachteln und alles, was man an eine Steckdose anschloss und dann brummte.
Okay, die letzte Todesnachricht aus seinem Munde, in der Phase, in der die fußballfeldgroßen Baumärkte den kleinen Eisenwarenläden das Wasser abgruben. Vater hatte keinen Nachfolger für sein Geschäft gefunden und es einfach abgewickelt. Ich besuchte ihn an jedem zweiten Sonntag zum Abendessen, das er selbst zubereitete. Ich assistierte ihm in der Küche. Wir tranken jeder ein Bier während des Kochens, eine stumme Tradition, die sich entwickelt hatte, weil wir uns mit dem Reden weiterhin schwer taten. Vater saß in seiner Schürze auf einem Hocker und schälte Kartoffeln. Es gab stets Fleisch, Salzkartoffeln und Gemüse. Die Schalen fielen in Kringeln in den Bio-Abfalleimer, der zwischen seinen Beinen positioniert war. Er trank einen Schluck und sagte tonlos. „Ach ja. Übrigens. Deine Mutter ist gestorben.“
Vollkommen überraschend. Ein Schlaganfall am Tag zuvor. Die Nachbarin hatte einen Sturz gehört und, weil meine Mutter nicht auf ihr Klingeln reagierte, einen Notarzt gerufen, der aber nur noch den Tod feststellen konnte. Nach ihrer Trennung hatte mein Vater sie regelmäßig besucht, wohingegen sie nicht mehr in mein Elternhaus zurückgekehrt war. Nie hatte er schlecht über sie gesprochen, auch nicht, als sie einen neuen Freund hatte. (Die Beziehung hielt aber nur ein halbes Jahr.)
Das Abendessen verlief schweigend. Ich dachte an die letzten Begegnungen mit meiner Mutter, ihre Erzählungen vom gemeinsamen Urlaub mit meinem Bruder und den Zwillingen an der Nordsee. Sie schien zufrieden und ausgeglichen. Sie legte großen Wert auf ihre Freundschaften, wollte aber keine intime Beziehung mehr zu einem Mann.
Überflüssig zu erwähnen, dass mein Vater nicht über seine Gefühle zu ihr sprach. Weder an diesem Abend noch am Tag der Beerdigung im engsten Familienkreis (ohne Torben) noch danach. Ich besuchte ihn weiterhin alle zwei Wochen Sonntags zum Abendessen. Er zog sich immer weiter zurück, verabschiedete sich aus dem Kegelclub, dem er vierzig Jahre angehört hatte, fuhr nicht mehr in Urlaub und verließ das Haus nur noch einmal die Woche zu einem Großeinkauf. Und trank zu viel, ohne es vor mir zu verbergen.
So ging es noch ein gutes Jahr weiter, bis mein Vater eines Tages tot zusammenbrach in seinem Werkzeugkeller. Im Fallen muss er eine Schachtel mit Unterlegscheiben mitgerissen haben, sie lagen verstreut auf seiner Brust wie Laub.
Frank Schmitter, geb. 1957 und aufgewachsen in Krefeld. Nach abgebrochenem Germanistik-Studium Ausbildung zum Diplom-Bibliothekar und in diesem Beruf tätig bis zur Pensionierung im Sommer 2023.
Seit 1999 Publikationen von Lyrik und Prosa, darunter auch vier Kriminalromanen, die bei Emons, btb und im Piper-Verlag erschienen sind.
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