Uromas Geburtstag

Iris Brandewiede für #kkl45 „Mutter, Vater, Eltern“




Uromas Geburtstag

Heute wird Uroma unglaublich alt, fünfundachtzig Jahre. Sie hat groß eingeladen und die Gaststätte Heintze für uns gemietet. Während der Autofahrt nach Bottrop erzählt meine Mutter von ihren Sommerferien mit der Familie in der Kindheit: „Die Heti, die kennt ihr ja, das ist Omas kleine Schwester, meine Lieblingstante, die Mutter von Margret, meiner Lieblingscousine.“ Mein kleiner Bruder pult an dem Loch in der hinteren Sitzbank, ich versuche mir alles zu merken. „Die waren ja sechs, die Kinder von Uroma“, erklärt meine Mutter, „die Else, dann kamen Fritz und Erich, der Alfred ist ja gefallen, und den Willi, den haben sie angenommen.“ Das mit dem Gefallenen verstehe ich nicht, aber es geht schon weiter. „Und dann waren da noch das Lieschen, also eure Oma, und meine Tante Heti. Die Kinder von Else, meine Cousinen, das sind ja die Helma und die Erna. Davon die Männer sind Lutz und Eugen, die kennt ihr doch noch.“ So ganz genau kennen wir sie eigentlich nicht. Die Männer sehen alle gleich aus, sind sehr dick, rauchen Zigarren, trinken Schnaps, essen riesige Mengen und lachen sehr laut. Die Frauen sehen sich auch sehr ähnlich, sie sehen alle ein bisschen aus wie Mama, Oma und Uroma, nur in dick und manche sehr doll geschminkt. Sie rauchen Zigaretten, trinken Eierlikör, essen riesige Mengen und lachen sehr laut. Mein Bruder und ich gucken aus dem Fenster. Die Häuser in den engen Straßen werden schon grauer. Jetzt sind wir bald bei Uroma, bei ihr sind die Häuser vom Ruß fast schwarz. Meine Mutter fragt: „Wisst ihr noch, wie letztes Mal die Ramona verschwunden ist?“ Ja, jetzt weiß ich es wieder. Beim letzten Besuch in Uromas Küche war da ein sehr kleines Mädchen, ein Enkelkind von einer der vielen Cousinen von Mama. Und dann war es plötzlich nicht mehr da. Alle haben nach Ramona gerufen und sogar außerhalb der Wohnung gesucht. Mein kleiner Bruder hat die Kleine am Ende gefunden. Sie war von der Eckbank gerutscht und lag friedlich schlafend mit dem Daumen im Mund unter dem großen Küchentisch. „An Ramona kann ich mich auch erinnern“, sagt mein Bruder.

Wir sind da und finden einen Parkplatz genau vor der Kneipe. Im Gastraum am Tresen hocken Lutz und Eugen, Schwiegercousins von meiner Mutter. Sie sitzen auf wackeligen Barhockern, die unter ihrem Gewicht schwanken, drücken meine Mutter an sich und rufen fröhlich: „Mensch Mädchen, wat bisse dünn!“. Sie bestellen „Drei Pils, drei Korn, also dreimal Herrengedeck“. Mein Vater bekommt ein Herrengedeck und kräftiges Schulterklopfen. Meinem Bruder klopfen sie heftig auf den Kopf. Er macht eine Schnute. Als einer der beiden etwas von Indianerschmerzen sagt, reißt er sich schnell zusammen. Mir kneifen sie in die Wange und schreien ins Ohr: „Nettmädken bisse geworden!“. Genau wie Lutz und Eugen begrüßen uns alle anderen Verwandten. Weil mein Vater so viel Pils und Korn trinken muss, fährt meine Mutter später nach Hause. Mein Vater hat extra so eingeparkt, dass sie nachher vorwärts losfahren kann. Hinten in Heintzes Festsaal stehen viele Frauen mit Kindern und Enkeln, die alle ein bisschen aussehen wie Mama und Oma in dick. Uroma, das Geburtstagskind, sitzt an einem sehr langen Tisch, guckt etwas verloren und sieht irgendwie komisch aus. Jetzt merke ich: Sie trägt ihre dicke Brille nicht – und auch keinen Kittel! Ihr weiß getupftes Kleid ist blauer als sonst und der kleine Dutt aus dünnem grauem Haar ist besonders straff, kein Haar hängt raus. Uroma trägt eine Brosche und einen extra Ring mit Perle am Finger, also nicht nur den doppelten Ehering, der wie mit der Hand verwachsen aussieht. 40 „Gehma bei die Uromma und gib der dat feine Händchen“, sagt eine der vielen Cousinen zu meinem Bruder. Vor Schreck gehorcht er. Ich gratuliere genauso. Die Cousinen loben meine Mutter für ihre artigen Kinder. Wir geben Uroma unsere selbstgebastelten Geschenke. Von meinem Bruder bekommt Uroma einen Marienkäfer aus getropftem Wachs, von mir ein selbstgemaltes Pferdebild aus Filzstift. Jetzt nimmt Uroma eine bunte Serviette vom Tisch, zupft zwei Stückchen ab, leckt ihre Zeigefinger an und klebt zwei bunte Papierfetzchen darauf. Mein Bruder und ich quetschen uns auf einen Stuhl neben Uroma.

Jetzt ist sie wie immer. Uroma zeigt uns einen Zaubertrick, unser Lieblingsspiel. „Es saßen zwei Täubchen auf dem Dach“, raunt sie, und ihre Papierschnipselfinger tupfen auf die Wachstischdecke. Mit geheimnisvoller Stimme geht es weiter: „Das eine fliegt weg, das andere fliegt weg.“ Die Hände fliegen hoch. Die Papierschnipseltauben sind verschwunden! „Das eine kommt wieder, das andere kommt wieder.“ Nacheinander landen die Tauben wieder! „Es sitzen zwei Täubchen auf dem Dach …“ Alle Kinder stehen um uns herum. Wir strengen unsere Augen enorm an, aber wir können das Rätsel der Täubchen nicht lösen. „Nochmal!“, rufen die anderen Kinder. Uroma fängt von vorne an.

Die Cousinen kreischen meiner Mutter ins Ohr: „Mädchen, du bist hässlich vor Magerkeit! Gibt’s denn im Münsterland nix Anständiges zu essen?“ In dem Moment fahren Heintzes die Suppenschüsseln herein. Die Verwandtschaft geht an die gedeckten Tische.

Wir sitzen zusammen mit Oma und Opa, Onkel und Tante. Jetzt geht es los mit der Suppe. Sie ist kochend heiß. Ich mag keinen Eierstich, mein Bruder keine Markklößchen. Wir tauschen. Dabei kleckern wir ein bisschen. Keiner schimpft. Alle essen. Es ist ganz still, nur die Löffel klackern. Es gibt noch mehr Suppe. Mein Bruder und ich sind schon satt. Heintzes fahren Platten mit Schweinebraten, Rotkohl und Erbsen-Möhren-Gemüse herein, dazu gibt es RIESIGE Schüsseln mit Salzkartoffeln und Soße.

Die Frauen geben das Essen in RIESIGEN Portionen auf die Teller. Uroma sitzt an ihrem Tischende. Sie spachtelt wie die anderen Erwachsenen. Mir ist ein bisschen langweilig. Ich versuche mit meiner Serviette den Täubchen-Trick. Ich kriege es nicht hin. Die Erwachsenen essen. Sie essen und essen. Sie nehmen nach. Sie trinken. Sie reden immer lauter, über die Tische hinweg.

„Boah der Eugen, der hat dat sechste Stück Braten, meinste dat sieht man dem Kerl an, dat der so essen kann?“ Ich finde schon. Das sage ich aber lieber nicht. Zum Nachtisch gibt es Herrencreme. Das hört sich komisch an. Mein Bruder und ich tauchen vorsichtig die Löffel in die wabbelige Speise. Uääääh. Alkohol. Mein Bruder lässt sich unter den Tisch gleiten. Ich trau mich nicht, hinterher zu rutschen und übe nochmal den Täubchentrick. Es klappt nicht. „Der Lutz hat die fünfte Schüssel Herren-Creme geschafft!“, schreit ein Cousin. Die anderen Männer feiern ihn mit einer neuen Runde Herrengedeck. Mir ist jetzt richtig langweilig.

Mein Bruder taucht nach seiner Expedition plötzlich gegenüber meiner Mutter wieder auf und schreit: „Guck mal Mama, die Helma die hat ein Bein wie du drei!“ Um ihn herum fangen alle an zu lachen, zuerst an unserem Tisch und dann in der ganzen Runde. Wir schleichen mit roten Wangen aus dem Festsaal nach vorne in den Schankraum. Hier steht der Flipper.

Viele von den anderen Kindern sind auch schon hier. Ein betrunkener Onkel wirft immer wieder fünfzig Pfennig nach, damit wir die Kugel durch die klackernden Hindernisse schießen können. Allein können die meisten von uns die Maschine noch nicht bedienen. Dazu müssten wir beide Seiten mit den Händen erreichen, so lange Arme haben wir aber nicht. Wenn wir zu zweit auf Kommando von beiden Seiten aus drücken, klappt es. Alle beobachten, wie die Kugel flitzt. Zwischendurch gehen wir zum Erdnussautomaten. Einer der vielen Onkels gibt uns zehn Pfennig. Wir stecken die Münzen in den Schlitz und drehen den Hebel, bis die roten Nüsse unten aus der Klappe rutschen. Unter dem klackernden Flipperautomaten essen wir die Beute. Heintzes rollen die leeren Essensschüsseln und Teller aus dem Festsaal. Die Erwachsenen bestellen eine Getränkerunde nach der anderen, im Schankraum zapfen Heintzes ohne Pause. Wir schauen der Wirtin beim Zapfen zu. Ein älterer Cousin bestellt sich mutig eine Regina. Das ist ein fies schmeckender roter Sprudel, der auf Uromas Rechnung geschrieben wird. Jetzt rollen Servierwagen mit großen Torten an uns vorbei in den Festsaal. Wir gehen hinterher. Bei den Verwandten probieren wir uns durch viele verschiedene Sahneschnitten. Sie schmecken alle gleich, nach Sahne und Zucker mit einem Schuss Alkohol. Die anderen Kinder gehen zurück zu Nüssen, Regina und dem Flipper. Ich setze mich an einen leeren Platz, ruhe mich etwas aus und falte eine Serviette. Dabei beobachte ich meine dicken Verwandten. Lutz und Eugen wetten, wer mehr Stücke Sahnetorte schafft. Beide sind schon beim sechsten Stück. Mir wird ein bisschen schlecht, aber gucken muss ich doch. Dann sehe ich Uroma.

Sie ist an ihrem Tischende eingenickt. Sie hat einen Soßenfleck auf dem Busen und die Nadeln an ihrem Dutt sind verrutscht. Jetzt sieht sie wieder richtig aus wie meine Uroma. Meine Oma und ihre Schwestern und Schwägerinnen sitzen in einer Runde in Uromas Nähe. Sie trinken Eierlikör und lachen so doll, dass ihre Brillen beschlagen. Wenn Oma so lustig ist, sieht sie aus wie das schwarzweiße Mädchen auf den Fotos in Uromas Küchenvitrine. Nach dem siebten oder achten Eierlikör werden die Stimmen der Frauen tiefer. Sie sprechen viel langsamer und wischen sich die Augen. Ich kann nur wenige Worte verstehen.

„Da ist unser Alfred gefallen …“, „…das Kind verloren …“ Ich bin traurig über den gefallenen Bruder und das verlorene Kind. Trotzdem will ich nicht weg. Ich möchte die Omafrauen in den Arm nehmen und trösten, obwohl ich ein Kind bin. Jetzt kreischen sie wieder und reiben sich die Lachtränen aus den Augen. Mein Vater sitzt zwischen Lutz, Eugen, Fritz und Willi und schaut in sein Herrengedeck. Die Herren klopfen ihm heftig auf die Schulter, erzählen Witze und lachen selber laut darüber.

„Saufen kann dein Kerl, Mädchen,“ sagen sie zu meiner Mutter. „Nur essen, dat könnt ihr alle nich!“

Das Gesicht meiner Mutter leuchtet. Sie gackert laut mit den Cousinen. Ich muss auch kichern. Nur Helma ist unruhig, sie schaut unter alle Tische und fragt mit quiekender Stimme: „Hat einer die Ramona gesehen?“ „Die war eben noch unterm Flipper“, sage ich mutig. Drei Cousinen erheben sich ächzend von ihren Stühlen, meine Mutter springt auf. Die Frauen gehen mit mir in den Schankraum. Die Kinder stehen am Flipper und drücken die Knöpfe, das Gerät klackert und dudelt, alle gucken gespannt dem Ball nach. Ramona ist nicht dabei. Ich quetsche mich durch und schaue unter dem Flipper nach. Keine Ramona. Mein kleiner Bruder verquirlt mit einer Salzstange etwas Eierlikör mit Regina und Salznüssen in einem Bierglas. Ich sage, dass wir Ramona suchen, und lasse ihn in seinem Versteck sitzen. Wir fragen die zwölfjährigen Jungs, die mit den Männern an der Theke über Fußball reden. Sie haben Ramona nicht gesehen, gucken aber zur Vorsicht draußen nach ihr. Helmas Schwager hat eben noch mit den großen Jungs diskutiert. Er dreht sein Bier in der Hand und kann sich an nichts erinnern.

Helmas hochgetürmte Frisur ist zerrupft, ihre schwarze Schminke verschwimmt um die Augen. Sie sieht aus, als ob sie gleich weinen muss. Meine Mutter beruhigt sie. „Die Ramona geht doch nicht allein raus, die finden wir schon. Weißt du noch wie sie bei Oma unterm Tisch …?“ Helma heult: „Aber unter den Tischen ISSENICH, da hab ich doch geguckt!“

Mein Bruder kommt mit ernstem Gesicht aus einem kleinen Flur beim Schankraum. An seiner Hand hält er ein kleines Mädchen mit tränenverschmiertem Gesicht. „Ramona!“ Helma schnappt sie sich und küsst sie so doll ab, dass ihr Gesicht aussieht wie rot geschminkt.

Der Schwager an der Theke klopft meinem Bruder zu doll auf den Kopf und die Schultern. Eine der Frauen hebt ihn schnell auf einen Barhocker und bestellt ihm ein Dunkelbier. Mein Bruder sieht jetzt sehr erwachsen aus. Er probiert das Dunkelbier und tut so, als wäre es lecker. „Ich musste mal aufs Klo“, erklärt er den aufgeregten Frauen. „Aus dem Frauenklo kam so ein Trommeln raus, da bin ich reingegangen. Ramona hat hinter einer Tür geweint und konnte nicht raus. Ich hab gesagt, wie man drehen muss, dass die Tür aufgeht, aber das hat sie nicht verstanden. Dann bin ich nebenan auf den Klodeckel und vom Spülkasten an der Wand raufgeklettert. Das war echt hoch, aber Ramona hat gelacht! Auf der anderen Seite bin ich wieder vom Spülkasten zum Klo runtergestiegen. Und da konnte ich die Tür von innen aufmachen.“

Helma würde meinen Bruder jetzt gern küssen, das sehe ich genau. Sie sagt aber nur leise: „Komma wacker bei die Helma“, und kramt in ihrer Rocktasche. Sie drückt ihm einen zerknüllten Fünfmarkschein in die Hand und flüstert mit leicht wackliger Stimme: „Dat tusse schön inne Spardose!“ So viel Geld hat mein Bruder noch nie besessen. Ich bin ein bisschen stolz und ein bisschen neidisch.

Uroma ist jetzt fest eingeschlafen. Sie sieht richtig fröhlich aus im Schlaf. Wir feiern noch lange weiter. Am Ende sind alle Erwachsenen stockbesoff en. Meine Mutter nur ein bisschen. Sie muss ja noch fahren. Ramona will nicht, dass mein Bruder geht. Er gibt ihr ein vorsichtiges Küsschen, dann löst er ihren Klammergriff . Helma nimmt Ramona auf den Arm. Sie winken uns hinterher. Mein Vater, mein Bruder und ich schlafen auf der Rückfahrt ein. Es war ein schönes Fest


Erschienen in „Reihenhauskind“, agenda Verlag Münster 2023




Iris Brandewiede

Iris Brandewiede lebt in ihrer Geburtsstadt Münster. Von hier aus betrachtet sie ihre kleine Welt und den großen Rest. Sie erzählt Geschichten, schreibt Kolumnen und Songtexte. Gemeinsam mit Fotografin Ingrid Hagenhenrich gestaltet sie Foto-Ausstellungen rund um junge Menschen, die täglich Barrieren überwinden.

Mehr Infos auf der Homepage irisbrandewie.de (Link: https://irisbrandewie.de ) und auf Instagram bei @irisbrandewie.de (Link: https://instagram.com/irisbrandewie.de )

Bibliographie:

  • Reihenhauskind – Großwerden in der Kleinstadt, agenda Verlag 2023
  • Mit Schirm, Charme und Fahrradhelm, agenda Verlag 2020
  • Hausfrau & Mutter, berufstätig, agenda Verlag 2019

Kolumne

  • „Hausfrau & Mutter, berufstätig“ im Online-Magazin alles münster seit Februar 2020

Sammel-Link: https://www.allesmuenster.de/hausfrau-mutter-berufstaetig/

Kooperationen:

  • Ich lasse mich nicht unterkriegen solange Worte meine Wut besiegen, Biographie von Selina Spetter, Vorwort Prof. Hans-Ludwig Spohr, Hg. Iris Brandewiede, agenda Verlag 2021
  • Sturmfrei, vorbei (mit Nicole Köllejan), agenda Verlag 2020

Interview- / Fotoserien mit Ingrid Hagenhenrich und Protagonist:innen

(Empowerment, Prävention, Inklusion)

  • „Starke Geister“, junge Erwachsene mit Fetalem Alkoholsyndrom, 12 Folgen 2023

Link: https://allesmuenster.de/tag/fasd

  • „Herzensangelegenheiten“, junge Erwachsene mit körperlichen Beeinträchtigungen, 8 Folgen, läuft bis Ende 2024

Link: https://allesmuenster.de/tag/herzensangelegenheiten

  • in Planung: „Als gäbe es kein Morgen“, Beitrag Anthologie 1250 Jahre Westfalen, VS-NRW / Regio Münsterland 2025





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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