Der dunkelrote Teppich

Nils Flatz für #kkl45 „Mutter, Vater, Eltern“




Der dunkelrote Teppich: Portal in die Vergangenheit

Danke. Ein recht einfaches Wort. Zweisilbig. Dan | ke. Es ist schnell ausgesprochen und trotzdem hat es manchmal eine Besonderheit an sich, die Überwindung kostet, um über die Lippen zu gelangen. Um die Fülle dieses Wortes und den Hintergrund dieser Geschichte zu verstehen, muss weit ausgeholt werden. Eigentlich ist es eine Erzählung, die genau das verfehlt, um was es sich hierbei handelt. Eine Verfehlung, die sich durch innere Unruhe ausdrückt. Ein verpasster Moment, der nicht mehr aufzuholen scheint. Ist es wirklich zu spät, um für vergangene Ereignisse dankbar zu sein?

Heute ist Pablo ein erwachsener Mann (glaubst er zumindest). Ein Mensch, der noch nicht ganz Mitten im Leben steht und noch nach Erkenntnissen, die ihn in eine – für ihn richtige – Richtung führen sollen. Ihn einen Weg einschlagen lassen. Seinen eigenen Weg. Doch darüber soll hier gar nicht philosophiert werden. Es geht um Dankbarkeit und seine Reue, nie den Mut gehabt zu haben, dies auszusprechen. Dafür müssen wir zurück in seine Kindheit springen.

Pablo war als kleiner Bursche frech und aufgedreht. Manch vergangene Situationen kann er lebhaft beschreiben, aber nicht mehr differenzieren, ob die Geschichte aus seinem eigenen Gedächtnis entspringt oder aus Erzählungen anderer zusammengereimt ist. Was er genau weiß, und dabei hat er auch heute noch Bilder im Kopf, sind die Mahnungen seines Vaters über sein Verhalten gegenüber seiner Mutter, Marianne. Pablo stand damals in die Diele seines Elternhauses. Unter ihm ein großer dunkelroter Teppich, der seine Farbe in ein noch dunkleres Rot verwandeln konnte, wenn man die Fasern in eine gewisse Richtung strich. Und durch das alltägliche Auf- und Abgehen und Queren des Zimmers hatte dieser Teppich eine eindrucksvolle Verspieltheit, hinter der sich eine ganze Landschaft zu verbergen schien. Gegenüber von ihm – auf diesem großen dunkelroten Teppich – war sein Vater. Er hockte, sodass er mit ihm auf Augenhöhe war. „Warum bist du so gemein zu deiner Mama?“ Diese Worte brannten sich für immer in sein Gedächtnis, wie glühendes Magma durch dickste Steinmassen. Er erinnert sich auch noch genau an seine Antwort. „Manchmal lasse ich halt den bösen Pablo aus mir raus. Ich werde versuchen, öfter den guten Pablo herauszulassen.“ Retrospektiv betrachtet war dies nur eine Ausrede, um seinen Vater zu beschwichtigen. Die Situation war überfordernd für ihn. In dem Moment fühlte er nichts (glaubt Er sagen zu können, obwohl so viel Zeit vergangen ist). Aber Sinn ergibt das keinen. Warum sonst verfolgen ihn diese Worte immer noch? Vielleicht ein Selbstschutzmechanismus, um nicht zu viel darüber nachzudenken. Er weiß es nicht.

Auf diesem dunkelroten Teppich geschah so viel anderes auch. Sein erster Wutausbruch, weil er bei einem Level von Super Mario Bros nach mehrfachen Versuchen keinen Erfolg hatte und dann sein dunkelroter (Zufall) Gameboy daran glauben musste. Der Transport seines kleinen Bruders (damals noch ein Baby) ins Krankenhaus, weil er nichts essen wollte. Eine harmlose Schlägerei mit seinem großen Bruder. Verspielte Momente mit seinem ersten Haustier, einem Hund namens Emma. Danach Asta. Jetzt Lily.

Ein weiterer Schreckensmoment aus seiner Kindheit – wieder am Schauplatz des dunkelroten Teppichs – war ein Streit mit seinen Eltern. Sie drohten ihm damals, ihn ins Kinderheim zu stecken. Pablo musstes etwas ziemlich Furchtbares angestellt haben, da diese Drohung nur ein einziges Mal in seiner Kindheit ausgesprochen wurde. Und von allen Brüdern auch nur Ihm. Trotzdem kann er sich nicht mehr erinnern, um was es ging. Auf jeden Fall drehte es sich um sein Verhalten und wahrscheinlich wieder mal gegenüber seiner Mutter. Pablo erinnert sich auch noch an die Frage – womöglich die letzte, falls die Drohung seiner Eltern doch keine Drohung war – von seinem großen Bruder. „Darf ich dann deine Spielsachen haben, wenn du weg bist?“ Heute können sie, sein Bruder und er, herzhaft über diese Frage lachen, wenn sie in alten Zeiten schwelgen. Damals war sie ihm egal.

Pablo war 8 Jahre alt und wieder stand er auf dem dunkelroten Teppich. Mit dem Rücken zur Haustüre musterte sein Blick alle Einzelheiten, die er auffangen konnte. Jeder Makel und alle Schönheiten des Hauses. Er musste nämlich für eine Woche ins Krankenhaus und wollte nicht vergessen, wie der Ort, in dem er aufwuchs, aussah. Das klingt leicht übertrieben, da der Aufenthalt nicht besonders lange war, aber als Kind hat man nicht so ein Gefühl für Zeit und Pablo dachte bis ins Erwachsenenalter, dass er dort drei Wochen verweilt hat. Erst vor kurzem hat er den Befund von damals in alten Ordnern ausgegraben und war erstaunt von der echten (kurzen) Aufenthaltsdauer. Das Besondere an diesem Krankenhausaufenthalt war, dass seine Mutter keine Sekunde von seiner Seite gewichen ist. Sie nahm sich von der Arbeit frei und schlief die Nächte im Krankenbett neben ihm. Dadurch hatte er nicht eine Sekunde Angst verspürt. Nicht vor seiner Operation und auch nicht post-Operation. Es gab nur einen einzigen Moment der Angst. Als die langwirkende Narkose nach dem Eingriff langsam ihre Wirkung verlor und Pablo vergeblich versuchte, sich aus seinem Bett aufzurecken. Sein Kopf drehte sich und sein Blick wanderte als erstes nach rechts. Das Bett, wo seine Mutter normalerweise lag, war leer. Pablos Magen drehte sich. Panisch löste er den Notknopf – den jedes moderne Krankenhausbett besitzt – aus und fragte das Personal nach seiner Mutter. Schnelle Erleichterung, denn sie war nur kurz weg, sagte man ihm. Auto umparken oder so. Doch diese kurze Angst, die er damals verspürte, war grausam und zeigte die unfassbare Bedeutung seiner Mutter für ihn auf.

In seiner weiteren Jugend war das Verhältnis zu seiner Mutter schlecht. Pablo fühlte sich nicht verstanden und das Gleiche kann man wohl über Marianne auch sagen. Sie haben oft gestritten. Sich selten ausgesprochen. Selten Entschuldigungen ausgetauscht. Diese Zeit ging so lange und ist auch schon so lange her, dass sie vermutlich beide nicht wissen, warum es so war und wie dieses Verhältnis eigentlich entstanden ist.

Obwohl sich durch sein Ausziehen in eine eigene Wohnung die Fronten auf beiden Seiten zurückgefahren haben, hatte er den Drang danach Frieden zu schließen. Als Pablo allmählich erwachsen wurde, hatte er sich öfters vorgenommen, das Kriegsbeil symbolisch zu vergraben. Die Idee war eine einfache. Dankbarkeit. Es wäre nicht zu viel verlangt gewesen, der Dankbarkeit, die er auch so stark verspürt hatte, Ausdruck zu verleihen. Er hatte sich in seinem Kopf schon genau ausgemalt, was er sagen wolltest. Die unfassbare Bedeutung des damaligen Krankenhausaufenthalts für ihn. Einfach Danke sagen. Pablo fuhr durch starken Regen in rasantem Tempo zu seinem damaligen Elternhaus. Parkte sich hastig ein. Lief die letzten Meter von Gartentor zu Haustüre, um nicht völlig nass zu werden. Sperrte die Tür. Schuhe auf die Ablage. Und wieder stand er auf dem riesigen dunkelroten Teppich. Regentropfen lösten sich von seinen Haaren und tröpfelten wie in Zeitlupe um ihn herum auf den Teppich. Machten ihn dunkler, als er ohnehin schon war. Er wolltest sich ein Herz fassen und die Dankbarkeit nur so aus ihm raus brüllen. Seiner Mutter Marianne entgegen. DOCH NICHT. Sein Mut verließ ihn bei der letzten Treppenstufe in den zweiten Stock. Ein einfaches Hallo an seine Eltern beendete schlussendlich sein Vorhaben.

Bis heute kam es nicht zu diesem Ereignis. Bis heute kam es nicht zu dieser versöhnenden Tat. Bis heute kam es nicht zum symbolischen Akt der Dankbarkeit. Mit der Zeit schwindend, weiß Pablo nicht, ob er es je schaffen wird. Eine Reue, die sich weiter in seinem Herzen ausbreitet.




Nils Flatz geboren in Wien, ist in seinem Leben schon oft umgezogen, jedoch bisher nicht über die Grenzen Österreichs. Studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Wien. Versucht ständig seinen Leidenschaften hinterherzujagen. Derzeit: Tennis, Schreiben, Lesen.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Ein Kommentar zu “Der dunkelrote Teppich

  1. Lieber Nils, eine wunderschöne und berührende Geschichte! Du schaffst es, die Themen Dankbarkeit und Reue auf eindringliche Weise zu vermitteln. Besonders das Symbol des dunkelroten Teppichs bleibt stark im Gedächtnis. Ich freue mich auf mehr von dir!

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