Ruinen

Liliana Wildling für #kkl45 „Mutter, Vater, Eltern“




Ruinen

Das grässliche Flirren über der glühend heißen Erde, welches gerade seinen Höhepunkt erreichte, brannte mit jedem weiteren Schritt ein bisschen mehr Hoffnung aus Emilios wundem Herzen. Dennoch schlurfte er trotzig die verwaiste Straße zu seinem zerstörten Heim entlang. Völlig erledigt von der abartigen Hitze und dem befremdlichen Anblick. Bestürzt blinzelte er gegen grelle Lichtreflexionen aus den umliegenden Schuttbergen an. Ein beunruhigendes Rasseln untermalte jeden seiner schweren Atemzüge.

Er bahnte sich zielstrebig einen Weg zwischen herabgefallenen Mauerteilen und Leichen. Anders als zu Beginn seiner Reise fasste er die Menschen nicht mehr an, um ihnen ein Lebenszeichen zu entlocken. Nach den vielen Händen, an denen Emilio in den letzten Stunden vergebens gerüttelte hatte, besaß er nicht mehr die erforderliche Kraft, eine weitere Enttäuschung auszuhalten. Mutlos blickte er auf die kläglichen Überreste der einstmals gepflegten Häuser, welche die von Trümmern übersäte Straße säumten. Wie in Trance stieg er über Steine und geplatzte Ziegel hinweg, balancierte geschickt über hölzerne Balken. Das Knirschen und Knistern des nachgebenden Materials unter seinen Füßen war sein einziger Begleiter auf dieser einsamen Reise. Der gezeichnete Mann, dessen aschfahles Gesicht unzählige Schrammen und Narben aufwies, schien der einzige Überlebende weit und breit zu sein. Feine Rinnsale aus Schweiß liefen seine ausgezehrten Wangen entlang und hinterließen dabei Schlieren. Auf seinem schmutzigen Hemd blühte auf Höhe der linken Schulter ein Blutfleck auf. Der Scharfschütze, der mit beängstigender Präzision alle anderen Passanten getötet hatte, hatte sein Herz um wenige Zentimeter verfehlt. Es war purem Glück zu verdanken – hätte nicht ein weiterer Bombenangriff die Erde erzittern lassen, läge Emilio jetzt tot in seinem Blut.

Am Ende seiner Kräfte, mutlos und ausgelaugt, erreichte er sein Ziel.

Von seinem wunderbaren Haus, das er mit seinen eigenen Händen erbaut hatte, war kaum etwas übrig. Wie bei den meisten Gebäuden fehlte der obere Stock, Teile des eingestürzten Daches lagen verstreut herum. Aus den bröckeligen Grundmauern ragten hier und dort zersplitterte Reste der Fensterahmen. Scharfe Scherben blitzten aus den Geröllhaufen vor dem ehemaligen Eingang, und glitzerten in der Sonne. Die schwere Holztüre lag davor, halb verschüttet von Mauerresten und abgefallenem Verputz. Windböen wirbelten Sand und Staub auf. Die feinen Partikel kratzten in den Augen und verstärkten das Brennen in seiner ausgetrockneten Kehle. Wissend, dass die Trümmer ihn nicht trösten würden, betrat er die Ruine nicht. Darin gab es nichts mehr. Keine Liebe. Kein Gefühl von Geborgenheit. Kein Glück. All das war unwiederbringlich fort.

Aus einem hüfthohen Haufen aus Mauerwerk und Mörtel lugte der Henkel eines gelben Kaffeebechers. Wehmütig zog Emilio das staubige Ding heraus und drehte es ungläubig in den Händen hin und her. Ein feiner Riss durchzog den Becher von oben nach unten, ansonsten sah er unversehrt aus. Mit dem Daumen wischte er den Dreck von der gelben Oberfläche und las die in krakeliger Kinderschrift aufgemalten Worte: Für den besten Papa der Welt.

Ein schmerzerfülltes Wimmern stieg seine Kehle hoch. Er stand mitten in den Scherben seines Lebens und wusste nicht, ob er noch ein Vater war. Ein Ehemann? Sein Magen verkrampfte sich und sandte Wellen schneidenden Schmerzes aus. Das Lachen seines Kindes und die liebliche Stimme seiner Frau hallten in Emilios Gedanken nach und ließen ihm das schwere Herz noch schwerer werden. Heiße Tränen der Verzweiflung verschleierten seinen Blick. Er nahm es dankbar an. So musste er das Meer aus geborstenen Ziegeln und zerplatzten Träumen nicht länger sehen. Enttäuschung und Kummer zwangen ihn in die Knie. Unendlich müde und ohne einen Funken Willen, sich weiter gegen die Schwerkraft zu wehren, sank er zu Boden. Einem verstoßenen Hund gleich rollte er sich auf dem dreckigen Untergrund zusammen und litt wie noch nie zuvor in seinem Leben. Die Frage, ob es Himmel und Hölle wirklich gab, war nun geklärt. Es gab eine Hölle und er befand sich mittendrin. Stundenlang zitterte und weinte er, und spürte eine unbeschreibliche Leere in sich. Nicht wach, nicht schlafend, dämmerte er in einem Zustand purer Qual dahin. Kein Ende des Schmerzes in Sicht.

Als die sengende Sonne am Horizont versickerte und die brütende Hitze des Tages mit sich nahm, glitt der Gestrandete in einen unruhigen, oberflächlichen Schlaf und fand sich in einem Alptraum wieder. Er durchlebte erneut die grauenhafte Szene auf dem großen Marktplatz, bei der er verletzt worden war.

Guter Dinge bummelte er von Händler zu Händler und begutachtete die feilgepriesenen Waren. Sein Nachbar Enzo stieß dazu und lotste ihn an einen besonderen Stand. Man plauderte nett, lachte zusammen und suchte Obst und Gemüse aus. Alles war friedlich und ruhig. Nichts deutete auf die sich anbahnende Tragödie hin.

Einen Wimpernschlag später begann das Sterben. Unvermittelt fielen die Menschen um ihn herum zu Boden. Erst der Gemüsehändler mit den schönen Auberginen, gleich darauf der freundliche Nachbar. Immer mehr Leute sackten in sich zusammen. Getroffen von einem gnadenlosen Scharfschützen, der unsichtbar aus der Ferne auf alles schoss, was sich bewegte. Männer, Frauen und Kinder. Unter den leblosen Körpern bildeten sich rasch Blutlachen. Manche Menschen zuckten noch einen Moment, ehe sie ihr Leben aushauchten. Völlig überrumpelt von dieser verstörenden Szenerie konnte Emilio das Geschehen nur beobachten, aber nicht vernünftig reagieren. Er sollte dringend weglaufen und Schutz suchen, doch er konnte nicht. Wie erstarrt stand er an Ort und Stelle, unfähig sich zu rühren. Explodierende Bomben in unmittelbarer Nähe ließen die Erde erzittern. Seine Schulter sandte plötzlich stechende Schmerzen aus.

Die ganze Nacht warf Emilio sich herum, rief mit krächzender Stimme um Hilfe, und tränkte den staubigen Boden mit einer Flut an Tränen.

Das zarte Gewicht einer Kinderhand auf seinem Arm erlöste ihn im Morgengrauen von seinen Qualen. Er spürte federleichte Fingerchen, die vorsichtig hoch zur Wange streichelten.

»Papa?«, flüsterte die schönste Stimme der Welt. War er tot und im Himmel? Es musste so sein. Nur dort konnte ein einzelnes Wort sein Herz so sehr mit Dankbarkeit und Liebe füllen.

Zaghaft öffnete er die Augen und blickte in ein vertrautes Gesicht.

»Papa!« Seine kleine Tochter presste sich haltsuchend an seine Seite. »Ich hab’ dich gefunden!«

Er konnte sein Glück kaum fassen.

»Sofia.«

Erleichterung durchströmte ihn und wischte einen Teil seiner Ängste und Sorgen fort. Er richtete sich ächzend in eine sitzende Position auf und umarmte seine Tochter. Die Fünfjährige schluchzte hemmungslos und drückte ihr kleines, schmutziges Gesicht für einen Moment fest an Emilios stoppelige Wange.

»Hast du dir wehgetan?«

»Nein.« Sie schüttelte vehement den Kopf. »Mir gehts gut.«

»Weißt du, wo Mama ist?«, fragte er mit flehendem Unterton. Unsicher, ob er die Antwort verkraften konnte.

»Mama ist auf dem großen Platz vor der Kirche. Da vorne.« Hastig deutete sie mit der Hand in die ungefähre Richtung. »Da ist ein weißes Zelt, so wie das vom Zirkus, nur ohne Tiere. Und da sind ganz viele Leute.«

»Geht es Mama gut? Ist sie gesund?«

»Sie hat jetzt einen Verband«, erklärte Sofia und fasste an ihr linkes Schienbein. »Da. Aber sie hat gesagt, es ist nicht schlimm.«

Tränen des Glücks fluteten Emilios Augen, und sein Herz quoll schier über vor Freude. Er stand vor dem Nichts, und doch besaß er so viel – seine Frau und seine Tochter lebten.

Nun konnte er nach vorne blicken und die Flucht aus seiner vom Krieg gebeutelten Heimat planen. Ein notwendiger Schritt, der ihm nicht leichtfiel. Er musste alles hinter sich lassen und irgendwo, in einem fernen Land, neu anfangen.

Von der schweren Last der Ungewissheit über den Verbleib seiner Liebsten befreit, fühlte er so etwas wie Hoffnung. Ein kleiner Funke nur, doch genug, um ihm ein zuversichtliches Lächeln zu entlocken.

Ende




Liliana Wildling öffnete ihre Augen zum ersten Mal an einem Sonntagmorgen 1979 in Österreich. Die Autorin schreibt hauptsächlich Romane und Kurzgeschichten im Bereich der Phantastik.

Veröffentlichungen:

»Eibe und das Buch der Schatten«, Fantasy-Roman (Hybrid Verlag), 2017

»Das Ende der Dämmerung«, Anthologie-Beitrag (Hybrid Verlag), 2018

»Der Fluch der Waldkönigin«, Sammelband (MysticMoments), 2018

»Der Gargoyle von Greenlake Hill«, Anthologie-Beitrag (Hybrid Verlag), 2019

»Ingelheim, Tag 1«, Anthologie-Beitrag (Chaosponyverlag), 2020

»In einer Welt gleich nebenan«, Dystopie, Roman (Hybrid Verlag), 2020

»Eibe und das Buch der Schatten II«, Fantasy-Roman (Hybrid Verlag), 2021

»Die Schattenseite der Wiederherstellung«, Anthologie-Beitrag (Noel-Verlag), 2021

»Das Geheimnis von Greenlake Hill«, Fantasy-Roman, 2021

»Die Illusion von Frieden«, Anthologie-Beitrag (p.machinery), 2022

»Regenerationsfaktor 361«, Thriller, Roman (Hybrid Verlag), 2022

»Spiegelspringer«, Fantasy-Roman, 2023

»Zombie auf leisen Pfoten«, Kurzgeschichte, 2023

»Tödlicher Wiedergänger«, Anthologie-Beitrag (net-Verlag), 2024

»Zug ins Jenseits«, Anthologie-Beitrag (Cinnamon Society), 2024

»Damned Fairground«, Mystery-Roman, erscheint 2024






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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