Ann-Katrin Seibel für #kkl45 „Mutter, Vater, Eltern“
Die Nachbarn
Der erste Vorfall ereignete sich auf dem Spielplatz, während sie Kuchen aus Sand, Steinen und Blättern aß.
Der Rand vom Sandkasten war hart und kalt. Rosa streckte den Rücken durch, Vim bohrte gedankenverloren in der Nase. Im nächsten Moment nahm er Alba ohne Vorwarnung das Muschelfömchen weg, nein, er riss es ihr förmlich aus der Hand und hielt es auch dann noch unbeeindruckt über seinen Kopf, als das Mädchen zu schluchzen begann und dicke Tränen ihre geröteten Wangen herunter kullerten.
Rosas Körper reagierte sofort. Ihr wurde heiß und kalt, der Haaransatz begann zu kribbeln, ihr Gesicht glühte. Ein schneller Blick zu Albas Mutter. Dann schoss sie auf Vim herab wie ein Bussard auf die Maus. Sie packte sein Handgelenk, umklammerte es fest. „Was soll denn das, du kannst doch Alba nicht einfach ihr Spielzeug wegnehmen! Das geht doch nicht, jetzt hast du sie zum Weinen gebracht, entschuldige dich gefälligst“, die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. Vim glotzte überfordert. Er glotzte seine Mama mit großen Augen und offenem Mund an. So hatte er sie noch nie erlebt.
„Hey, ist doch okay, er hat ja nichts Schlimmes gemacht“, wandte ihre Freundin ein, während sie Alba auf den Schoß hob und ihr beruhigend über das Gesicht streichelte. „Sie müssen ja erst lernen, wie man miteinander spielt.“
Vim streckte seinen Arm aus und reichte Alba wortlos das Förmchen. Rosa war so aufgewühlt, dass sie sich kaum noch auf das Gespräch konzentrieren konnte. Kurz darauf packte sie ihre Sachen zusammen und verabschiedete sich zerstreut.
Am Abend lag sie mit Vim im Bett, das Nachtlicht warf blaue Sterne an die Zimmerdecke und dudelte „Weißt du wieviel Sternlein stehen“ in Endlosschleife. Ihr rechter Arm war eingeschlafen, der Magen rumorte vor Hunger. Sie konnte nicht aufhören, an den Nachmittag zu denken. Wieso hatte sie auf dem Spielplatz so heftig reagiert? Obwohl, das war eigentlich gar nicht das, was sie wunderte. Wieso hatte ihre Freundin so reagiert? So – sie suchte innerlich nach den richtigen Worten – ruhig? Gelassen? Verständnisvoll? Während sie selbst Vims Fehlverhalten aufs Schärfste verurteilt hatte. Sie war sich sicher gewesen, dass ihre Freundin es auch unmöglich fand. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, dass es anders sein könnte.
Du musst dich immer benehmen. Du musst dich an die Regeln halten.
Rosa schüttelte den Arm, er kribbelte wie verrückt. Sie stand so leise wie möglich auf und machte sich in der Küche eine Tomatensuppe warm. Gedankenverloren starrte sie in den Kochtopf.
Das Handy klingelte. Ohne den Blick zu heben, wusste sie, dass es ihre Mutter war. Wie jeden Abend. Ob es etwas zu erzählen gab oder nicht, das abendliche Telefonieren gehörte dazu, es war ein Ritual, das nie in Frage gestellt wurde, ungeachtet dessen, ob sie eigentlich zu müde, zu krank, zu beschäftigt war. Es wurde telefoniert.
Sei immer nett und zuvorkommend.
„Hallo Liebes, und, schläft der Kleine schon?“
Überflüssig, die Frage, sonst wäre sie natürlich nicht ans Handy gegangen. Sie hielten Smalltalk über das Wetter (das nie gut war, wie es war), Rosas Bruder (unzuverlässig) und irgendwelche Nachbarn (zu neugierig). Schließlich legte sie auf, löffelte ihre Suppe, während sie auf dem Handy eine Serie schaute, ging zu Bett und dachte nicht weiter über den Vorfall nach.
Die zweite Situation trug sich eine Woche später im Wohnzimmer einer anderen Freundin zu, Esra. Die 4-jährige Tochter zupfte an Mamas Arm, die sich gerade mit Rosa über preisreduzierte Bodies im Drogeriemarkt unterhielt. Immer wieder wurde sie freundlich von der Mama aufgefordert, zu warten, bis sie ihr Gespräch beendet habe, immer wieder kam das Mädchen zurück, zupfte an Mamas Pulloverärmel und quengelte. „Mama. MAMA!“
Rosas Puls stieg. Sie spürte, wie sich ihre Nackenmuskeln anspannten. Zwar versuchte sie, dem Gespräch weiter zu folgen, sie lächelte steif und nickte ab und zu, aber sie merkte, wie ihre Aufmerksamkeit nur noch auf der Interaktion zwischen Mutter und Tochter lag. Wann das Mädchen wiederkommen würde. Wie die Mutter darauf reagierte. Sie horchte in sich hinein – genervt war sie selbst nicht von den Störungen, das war es nicht. Was dann? Warum waren ihre Hände so schwitzig, warum klammerten sich die Finger verkrampft um die Kaffeetasse? Warum zum Teufel war sie so angespannt? Als müsste sie im nächsten Moment wegrennen. Sich verstecken.
Als das Mädchen sich wieder an Mamas Arm hängte, schwappte lauwarmer Kaffee über Esras Hand und auf die geblümte Tischdecke. Rosa zog instinktiv den Kopf ein.
Du sollst die Erwachsenen nicht stören. Du darfst keinen Ärger machen.
Esra seufzte, stellte die Kaffeetasse ab, trocknete ihre Hand mit einer Serviette und drehte sich zu ihrer Tochter. Die Mutter sitzend, das Mädchen stehend, beide auf Augenhöhe. Esra nahm die Hände der Tochter in ihre – sie packte nicht ihre Handgelenke, sie schüttelte sie nicht an den Schultern -, es war eine sanfte, eine einladende Geste. Rosa nahm nichts Bedrohliches wahr, das Gesicht ihrer Freundin war glatt, nicht verzerrt, keine Zornesfalte über der Nasenwurzel, keine pochende Ader am Hals, keine Veränderung der Gesichtsfarbe in Zinnober-Rot, keine Spucke, die durch die Luft schoss beim Sprechen, beim Brüllen. Eine ruhige Mutter, die mit ihrem Kind sprach. Mit einer Mischung aus Irritation und Staunen beobachtete Rosa die Interaktion wie eine Zuschauerin, die im Kino ganz dicht vor der Leinwand sitzt. Sie versuchte, sich alles zu merken, am liebsten hätte sie die Szene aufgezeichnet, um sie später wieder abspielen zu können. Wie ein Kind zwar versteht, was es falsch gemacht hat, sich aber gleichzeitig gesehen fühlt. Und geliebt. Nicht abgelehnt.
Keine Angst. Keine Scham.
Fehler müssen bestraft werden.
Rosa entschuldigte sich und stolperte zur Toilette. Ihre Hände zitterten leicht, die Anspannung, die sich in ihrem Körper aufgebaut hatte, machte ihre Knie weich. Sie ließ eiskaltes Wasser über die Handgelenke laufen und versuchte, ruhig zu atmen. Auf der anderen Seite der Tür hörte sie das Lachen von Esra und ihrer Tochter, Vim quietschte vergnügt, während Rosa das Gefühl hatte, dass sich ihr Hals zuschnürte.
An einem Samstag fuhr sie mit Vim zu ihren Eltern, der Vater feierte seinen 65. Geburtstag. Auf der Rückbank lag zusammengerollt ein Bild, das Vim mit seinen dicken Buntstiften für Opa gemalt hatte, und teurer Rotwein aus Rioja. Sie hatte sich extra in einer Weinhandlung beraten lassen.
In der Straße reihten sich typische Kleinstadt-Vorgärten aneinander, alle sahen gleich aus. Vorm Haus der akkurat geschnittene Buchsbaum und der pausbäckige Engel aus Stein, im Fenster die halbhohen, gehäkelten Vorhänge.
Rosa spürte eine leichte Übelkeit.
Die feuchten, rot bemalten Lippen ihrer Mutter, der vertraute Geruch nach Chanel zu besonderen Anlässen, im Hintergrund wie immer Deutschlandfunk Kultur. Der Vater in seinem Lesesessel, er erhob sich wie gewohnt nicht, ein „Hallo“ von Rosa und ein „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Papa“, Vim schmiegte sich an ihre Beine. Der Vater blickte über den Rand seiner Lesebrille, dann wieder auf die Zeitung. Mehr war nicht zu erwarten.
Wie immer fing die Mutter alles ab, hob Vim auf ihre Arme und zeigte ihm den Geburtstagskuchen, fragte Rosa nach ihrer Arbeit. Nach und nach kamen Verwandte und Nachbarn dazu, der Vater erhob sich aus seinem Sessel und ließ sich beglückwünschen, es gab Kaffee und Käsekuchen und Eierlikör in den teuren Kristallgläsern mit dem langen Stiel. In einem ruhigen Moment überreichten Rosa und Vim ihre Geschenke. „Hier, Papa, ich hoffe, ich habe deinen Geschmack getroffen.“ Ein kurzer Blick auf die Weinflasche. „Ich trinke inzwischen lieber Bourbon. Tja.“
Du bist nicht gut genug.
Das Bild von Vim blieb eingerollt, er legte es zur Seite und unterhielt sich weiter mit dem Nachbarn über Rasenmäher-Modelle.
Rosa stand noch eine Weile neben ihm, nicht, weil sie noch etwas erwartete, eher, weil sie sich vergewissern wollte, dass das tatsächlich alles war. Mehr gab es nicht. Einen flüchtigen Blick, einen abschätzigen Kommentar.
Sie setzte Vim auf Omas Schoß und ging rauf in ihr altes Kinderzimmer. Die Stufen der Holztreppe knarzten, das Muster der geblümten Tapete hätte sie mit geschlossenen Augen nachmalen können. Sie ließ sich auf das Bett sinken, die Matratze gab unter ihrem Gewicht nach. Ihr Herz klopfte wütend, sie schloss die Augen und versuchte, ruhig und tief in den Bauch zu atmen.
Ihre Mutter kam herein, ohne zu klopfen, mit Vim an der Hand. „Ist alles in Ordnung? Du wirktest so blass eben, ist es wieder der Kreislauf?“
Vim begann, Decken und Kissen auf einem Haufen auf dem Teppich zu sammeln.
Rosa schaute auf. „Der Wein. Er ist nicht gut genug.“
Die Mutter seufzte und setzte sich neben sie auf das Bett, die Matratze bildete eine Kuhle, sodass sie in der Mitte aneinander stießen. Rosa rückte ein Stück weg.
„Du weißt doch, wie er ist. Nimm es bitte nicht persönlich.“
Vim zog sich die Decke über den Kopf und machte „Kuckuck!“.
„Vims Bild hat er sich nichtmal angeschaut.“
Die Mutter knetete ihre Hände, das Gespräch war ihr sichtlich unangenehm. Sie versuchte ein schiefes Lächeln. „Später bestimmt, jetzt ist gerade so viel los unten. Dein Papa ist auch nicht mehr der Jüngste, er kann nicht mehr so viel gleichzeitig machen.“ Der Lippenstift sammelte sich in den Ecken ihrer Mundwinkel. Im Licht, das durchs Fenster schien, bemerkte Rosa die dicke Schicht Make-up.
Sie schluckte. Dann sagte sie leise: „Mama. Warum hast du zugelassen, dass Papa mich als Kind immer bestraft hat?“
Die Mutter wurde steif. Rosa konnte es spüren, als wäre ihre Wirbelsäule plötzlich aus Eis, unbeweglich wie ein Schneemann.
„Also, was heißt denn bestraft. Wie kommst du denn jetzt darauf? Müssen wir wirklich jetzt darüber reden?“
„Wenn ich beim Essen gekleckert habe, gab es einen Fußtritt unter dem Tisch. Wenn ich mit einer 2- nach Hause kam, hat er mich angeschaut, als wäre ich die allergrößte Enttäuschung für ihn.“
Die Mutter stand auf und strich ihr Kleid glatt.
„Wenn ich vor Verwandten vergessen habe, bitte oder danke zu sagen, hat er mich vor ihnen bloßgestellt und es gab eine Woche kein Fernsehen. Wenn ich aus Versehen etwas kaputt gemacht habe, hat er tagelang nicht mit mir gesprochen!“
Die Mutter lief in Richtung Tür, Rosa stand vom Bett auf, wurde lauter.
„Wenn er sich bei irgendetwas gestört fühlte, hat er mich angebrüllt, Mama. Wenn ich meine Spielsachen nicht ordentlich weggeräumt habe, musste ich ohne Abendessen ins Bett. Wenn ich auch nur den kleinsten Fehler gemacht habe, hat er mich behandelt wie einen Schwerverbrecher. Seine eigene Tochter! Ich war immer auf der Hut, ich war immer angespannt. Wieso hast du nichts gesagt? Wieso hast du mich nicht in Schutz genommen?“ Ihre Stimme zitterte. „Ich dachte wirklich, ich bin das Problem. Ich dachte, ich bin der Fehler, Mama.“
Die Mutter hatte eine Hand auf die Türklinke gelegt. Sie drehte sich halb zu Rosa um, am Hals waren rote Flecken zu sehen.
„Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, Rosa. Die Nachbarn sitzen unten. Und so schlimm war es nun auch nicht, es ist ja wohl nicht so, als wenn wir dich geschlagen hätten, oder?“
Was sollen die Nachbarn denken.
Deine Gefühle sind nicht wichtig.
Stell dich nicht so an.
Fassungslos starrte Rosa ihre Mutter an. Ihre Mutter, die ihr bei Fieber Wadenwickel gemacht hatte. Die bei jeder einzelnen Theatervorstellung in der Schule gesessen und ihr den allerersten BH gekauft hatte. Die bei der Abifeier Tränen der Rührung vergossen und nach Vims Geburt wochenlang für sie gekocht hatte. Ihre Mutter, die sie nicht vor dem Vater beschützt hatte.
„Wenn ihr soweit seid, kommt wieder runter. Die Nachbarn haben noch ein kleines Theaterstück vorbereitet. Das wird sicher lustig.“
Die Tür fiel ins Schloss.
„Kuckuck“, machte Vim.
Sie fühlte sich seltsam taub, als sie mit Vim wieder die Treppe herunter stieg. Ein bisschen wie unter einer Käseglocke, die Geräusche gedämpft, die Gefühle auch. Um sie herum lachende, von Wärme und Alkohol gerötete Gesichter. Ein Theaterstück wurde aufgeführt, das Rosa nicht verstand. Ihre Mutter schwebte umher, mit einem Lächeln im Gesicht, und schenkte den Gästen nach. Dann legte sie dem Vater eine Hand auf die Schulter und lachte über etwas, das der Rasenmäher-Nachbar sagte. Sie legte eine Hand auf ihre Brust, warf den Kopf in den Nacken und lachte, sodass Rosa die Kronen in den Zähnen blitzen sah.
Sie starrte auf den Hals ihrer Mutter. Da, wo eben noch die hektischen, roten Flecken gewesen waren, sah man nichts mehr. Sie waren unter einer frischen Schicht Makeup verschwunden.
Ihr wurde ein Glas Eierlikör in die Hand gedrückt, sie hielt es fest und starrte in die gelbe, dickflüssige Masse. Ein Freund des Vaters hielt stehend eine Geburtstagsrede. Langsam taute Rosa auf, sie hörte „Zuverlässigkeit“ und „Loyalität“, sie hörte „Ehrlichkeit“ und „Gewissenhaftigkeit“, ihre Hand zitterte, Vim rutschte von ihrem Schoß und schlug mit dem Kopf an die Tischkante, die Gäste und die Mutter und der Vater hoben die Gläser, Vim weinte, Rosa hob langsam ihr Glas, alle sagten: „Hoch soll er leben!“, alle, bis auf eine.
Ann-Katrin Seibel, geb. 22.02.1985, wohnt mit ihrer Familie in Berlin. Sie ist Mutter von drei Kindern und arbeitet als Psychotherapeutin.
2021 veröffentlichte sie das E-Book „Dein Herz in meinem Bauch – wie du mich zur Mutter gemacht hast“ und 2024 ein kleines, illustriertes Bilderbüchlein für Erwachsene, „Das kleine Buch vom nein sagen“, beides im Selfpublishing.
Kürzlich schaffte sie es in einem Kurzgeschichten-Wettbewerb vom Schreibhain Berlin auf die A-Liste der bestplatzierten 20 Texte.
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