Amira Elisa Akta für #kkl45 „Mutter, Vater, Eltern“
Welt(en)fremd
Ich sitze auf einem Stuhl an der innersten Seite des Tisches, umrundet, fast eingekesselt von Handan Teyze, Ahmet Amca und unseren restlichen Gästen; Murat Abi ist da, Deri Abla, ihre Tochter. Rosa ist noch klein, sie rennt im Garten hinter uns herum auf ihrer Suche nach den kleinen, flinken Mücken, die uns seit diesem Jahr nerven, sogar mehr noch als die Schnaken, gegen die man sich sonst einsprühen musste. Es scheint ihr Spaß zu machen, die Fliegenklatsche, die Ahmet Amca für diesen Zweck aus dem Schuppen geholt hat, durch die Luft zu wedeln.
So hat sie wenigstens etwas zu tun. Es ist keine schlechte Beschäftigung, das gebe ich zu.
Mein linkes Bein habe ich im halben Schneidersitz unter mir verschränkt, ich sitze da wie immer, entspannt, relaxt, aber meine Gedanken sind auf Wanderschaft.
Handan Teyze hat für heute Abend den teuren Fisch gekauft, es sind die kleinen, frittierten, die mich immer an hamsi erinnern, die mir im Gegensatz dazu aber tatsächlich schmecken.
Wir essen Salat dazu, Reis, kuru fasulye, es gibt Brot, Käse, Oliven, alles, was man sich wünschen könnte, Handan Teyze hat an nichts gespart. Wir geben Komplimente für das gute Essen und bedanken uns, wünschen ihre Hände gesund und sauber, wie es Gang und Gäbe ist hier. Ich bin bereits seit mehreren Minuten satt, doch es schickt sich nicht, etwas auf dem Teller übrig zu lassen.
“Schmeckt es dir nicht?”, fragt Handan Teyze dann wie aufs Stichwort genau und ich beeile mich zu versichern, welch einen guten Job sie mit dem ganzen Abendessen gemacht hat. Es ist nicht gelogen.
Wie jeden Abend, wie jedes Essen, das ich mit ihnen geteilt habe, seit ich vor zwei Tagen hier in Ankara angekommen bin, beginnt Deri Abla die Reste auf unseren Tellern zu verteilen mit Worten wie “Ya, du hast doch fast nichts gegessen, komm, nimm noch ein bisschen mehr, den Reis liebst du doch, einen Löffel für dich, einen für mich.”
Sie türmt erneut Essen auf meinem Teller auf und ignoriert gutmütig meine Proteste. “Mach Handan Teyze glücklich”, sagt sie lachend, “Zeig ihr, wie lecker du ihr Essen findest.”
Ich hätte schon längst lernen sollen, dankbar aber bestimmt Nein zu sagen. Nach all den Jahren habe ich diese feine Kunst anscheinend immer noch nicht gemeistert.
Um ein bisschen Zeit zu schinden und die Aufmerksamkeit wieder von mir abzulenken, nehme ich einen Schluck von meinem Bier.
Es ist tatsächlich deutsches Bier, ich musste lachen, als ich die türkische Version des Wortes “München” auf der Dose gelesen habe. Deri Abla hat es extra aus ihrem Haus für mich mitgebracht. Ich habe mich nicht getraut, ihr zu sagen, dass ich kein Bier mag. Solange es kein rakı ist, den sie mir andrehen, ist alles okay, sage ich mir.
Nachdem alle Teller und Pfannen mit Brot geputzt wurden, jede einzelne Pfütze Öl und Soße mit Brot aufgesaugt und in unseren Mägen verstaut wurde, stapeln Deri Abla und ich die Teller. Murat Abi zündet sich eine Zigarette an. Ich bringe ihm den Aschenbecher von dem kleinen Tischchen im Garten neben der Hängematte. Er hat ihn vorhin dort vergessen und ich will nicht, dass er mit seiner Asche Löcher in die Tischdecke brennt.
Als Handan Teyze Anstalten macht, uns zu helfen, protestieren Deri und ich sofort. Sie hat gekocht für uns, sagen wir, mit dem Aufräumen sind nun wir dran. Sie lässt sich lachend wieder auf ihren Stuhl sinken und gibt sich damit zufrieden, Ahmet Amca neu rakı einzuschenken und mit ihrer Serviette die Krümel auf dem Tisch zusammenzufegen und auf ihrem Teller zu sammeln.
Sie lässt uns zwar die Teller in die Küche tragen und in die Spülmaschine stellen, doch als ich den kleinen Grill mit dem Topf voll Fett, den sie im Garten für den Fisch benutzt hat, ins Haus bringen will, stoppt sie mich.
“Lass nur, ablacım, das mache ich später alles sauber. Komm lieber an den Tisch zurück, du hast mir schon genug geholfen. Hier, dein Bier ist ja noch halb voll.” Sie winkt mich zu sich.
Ich sage ihr nicht, dass ich die zehn Minuten, die es gebraucht hätte, um den Topf sauber zu machen, gerne zum Aufatmen genutzt hätte.
Deri Abla kommt kurze Zeit später wieder aus der Küche, sie hat Honigmelone aufgeschnitten und stellt uns den Teller in die Mitte.
Wie jeden Abend sitzen wir noch lange Zeit draußen, es werden die neuen Zigaretten ausprobiert, die mein Vater mir als Willkommensgeschenk für sie alle mitgebracht hat, langsam aber stetig wird der rakı-Anteil in den Gläsern mehr und das dazugemischte Wassers immer weniger. Ich frage mich, wie lange ich damit durchkommen kann, dass mein Bier bereits warm und immer noch halbvoll ist, bevor es jemandem auffällt.
Die Konversation geht zwar nur schleppend voran, doch das scheint niemanden groß zu stören. Die Antworten auf Fragen kommen langsam, Gesprächsthemen sind so spärlich wie der Schnee in Antalya und vergehen so schnell wie die Sonne im Winter in Kiel.
Als Deri Abla lacht, bin ich überrascht über das Kratzen in ihrer Stimme. Ich habe sie wohl noch nicht so oft laut auflachen gehört.
Ich versuche, mich auf den Klatsch aus der Nachbarschaft zu konzentrieren, aber meine Gedanken schweifen zu schnell ab. Ich denke darüber nach, was ich sonst eigentlich zu tun hätte, dass ich produktiv sein müsste, dass ich etwas anderes mit meiner Zeit anfangen müsste. Es sind stressige, unschöne Gedanken, und doch kann ich sie nicht leicht aus meinem Kopf verbannen.
Seltsam, dass mein Vater und ich uns in dieser Hinsicht so sehr ähneln. Ich dachte immer, der übermäßige Zwang zur Produktivität käme von der deutschen Seite meiner Familie.
Die Atmosphäre ist unangestrengt, ruhig, und irgendwie gedämpft. Ich denke darüber nach, wie gerne ich hier bin, wie sehr ich die Gastfreundschaft und unsere Traditionen hier schätze. Ich bin so gerne Teil von etwas mit so viel Herz. Etwas, das so viel weicher und irgendwie gemeinschaftlicher ist als die Gewohnheiten, mit denen ich weit weg von diesem Land groß geworden bin.
Wieso also fühle ich mich hier doch so außen vor, so fehl am Platz? So klein, wenn Deri Abla mit Handan Teyze über mich spricht, lacht und sagt “Das hat sie sowieso nicht verstanden.”
So unselbstständig, wenn selbst die Anonymität beim Einkaufen im Migros Jet mir nicht genug Sicherheit geben kann und sich meine Nerven trotzdem im Kreis drehen, während ich versuche herauszufinden, ob die Hafermilch hier teuer ist oder nicht, weil ich mein Handy zuhause vergessen habe und deshalb die Lira nicht in Euro umrechnen kann.
Denn was gibt einem mehr Sicherheit als wenn man weiß, wie alles funktioniert, jedes Wort versteht, sich auskennt, einen Tagesrhythmus hat. Arbeiten geht, seine Routinen hat, genau die Hafermilch und das Müsli kauft, welche man gerne hätte, weil man es sowieso vom eigenen Geld bezahlt und die besten Marken seit Jahren inn und auswending kennt?
Und trotzdem vermisse ich die Unbeschwertheit der Türkei, wenn ich in Deutschland bin, die leichte Unaufgeräumtheit auf ihren Straßen, die Familiarität in ihrer Sprache, die Süße der Früchte, der Tomaten, der Menschen. Das gemeinsame Abendessen mit meinem Vater, das Rauschen des Meeres, den Zigarettenrauch in der Luft von verbrauchter Schachtel nach verbrauchter Schachtel.
Ich fühle mich gleichzeitig wohl und unwohl, wie ich hier auf meinem Stuhl in der Ecke sitze, mein warmes Bier sippe, dessen Geschmack sich in meinem Mund mit süßer Honigmelone vermischt und darüber nachdenke, wie ayıp es doch von Murat Abi ist, dass er nicht einmal ellerine sağlık zu Handan Teyze gesagt hat, als wir mit dem Essen fertig waren.
Ich liebe es, hier zu sein und doch fühle ich eine knubbelige Naht, eine leichte unsichtbare Grenze, die mich vom Rest trennt; und doch spüre ich ein leichtes Ziehen, ein Verlangen in meiner Brust, wenn ich an meine Routine in Deutschland denke, an meinen Schrank voller warmer, kuscheliger Mäntel und Schals.
Deri Abla verabschiedet sich nach und nach, dreimal hat sie insgesamt angekündigt, dass sie sich bald auf den Weg machen muss, dass das nun wirklich ihre letzte Zigarette sein sollte und Rosa bestimmt schon müde sein wird.
Wir verabschieden uns, mehrmals, obwohl wir uns morgen wiedersehen werden und Handan Teyze drückt ihr einen mit Frischhaltefolie verpackten Teller voller Reste des Abendessens in die Hand. Deri protestiert, aber letztendlich gewinnt Handan Teyze.
“Komm, wir gehen auch so langsam rein.” Sie wendet sich mir zu, während Deri Abla versucht, Rosa dazu zu bewegen, Ahmet Abis Fliegenklatsche hierzulassen.
“Es wird kalt hier draußen; ich mache uns einen çay.”
Nachdem wir beide die Küche in Ordnung gebracht haben, verbringe ich den Abend also im salon. Wir schauen Masterchef Türkiye und ich versuche meine Gedanken auf dem Sofa zu behalten. Es gelingt mir nicht. Stattdessen gehen sie wieder auf Wanderschaft, träumen von Routine, Regen und Selbstständigkeit, wenn ich hier bin, auch wenn ich genau weiß, dass sie von poğaça, pişi, gözleme, Sonne und Meer träumen werden, wenn ich wieder dort bin.
Ich sitze also im Wohnzimmer, fühle mich fremd und sippe meinen çay, will mit meiner einen Hälfte komplett hier sein und weiß doch gleichzeitig, dass meine andere Hälfte es mir niemals erlauben wird.
Amira Elisa Akta, geb. 03.02.2005, Speyer
„Ich bin eine motivierte angehende Autorin, die sich gerne selbst neue
Herausforderungen setzt und versucht, so oft wie möglich in neue, bisher
unbekannte Themen einzutauchen. Trotz meines jungen Alters kann ich
bereits von vielen außergewöhnlichen Erfahrungen erzählen, die mich bei
meinem Schreibprozess unterstützen. Durch viele Reisen wie z.B. das Laufen
zwei Caminos de Santiago in Spanien/Portugal und meinen türkischstämmigen
Hintergrund bin ich dazu in der Lage, mich in unterschiedlichste
Situationen hineinzuversetzen.“
Gründung des nachhaltigen Fashion-Labels A.Sisters.Fashion, 2020
Abitur, März 2024
Anstehendes Studium in Traducción e Interpretación in Granada, Spanien
Erster Platz des Friedrich-Magnus-Schwert-Preises, Lions-Club Speyer, 2023
Scheffel-Preis, durch Die Literarische Gesellschaft/Scheffelbund e.V., 2024
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