PeBi für #kkl45 „Mutter, Vater, Eltern“
Ich mache es auf meine Art – eine biografische Geschichte
Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll.
Meinen gescheiten und wunderbaren Kindern gegenüber möchte ich mich erklären, was mein Denken und Fühlen, meine Lebensphilosophie geprägt hat. Was ich davon an sie unausgesprochen weitergegeben habe – was davon unausgesprochen in ihnen ruht. Denn, „I`ve lived a life that`s full. I`ve traveled many highways; and more, more than this – I did it my way“ (frei nach Frank Sinatra).
Das Erinnern. Oder: Meine Wirklichkeit
Ich kann ein De´jà-vu empfinden durch Bilder oder auch Gerüche.
Wo befinden die sich all die Jahre, wenn man nicht an dieses Ambiente dachte? Erinnerungen verdichten sich, sobald man sich an einer Ecke an ein Detail erinnert. Wobei mir schon bewusst ist, dass ich mich an mehr als nur das Bild der vergangenen Realität erinnere. Und zwar wie ich es mir nach eigenem Ermessen, meiner je geprägten Wahrnehmung dafür, zusammengebastelt habe. Und das alles wird verbunden mit dem Jetzt und den gegenwärtigen Reizen – als eine um Gegenwärtiges angereicherte Erinnerung. Je öfter ich diese oder jene Situation erinnere desto mehr wird meine „neue“ Erinnerung von dem Damals entfernt sein.
Embodied – verkörpert ist unser Denken, weil alle Sinneskanäle an mehreren Stellen im Gehirn vom ersten Tag an implizit abgespeichert werden. Außerdem sind wir soziale Wesen deren Fähigkeiten und Gefühle von einem Kontext abhängen, in dem wir uns bewegen, von dem ein inneres Bild entsteht. In jeder Kultur wird gelernt zu unterscheiden zwischen „oben und unten“, „hinten und vorne“, „innen und außen“ und „nah und fern“.
Sich durch die Welt bewegen zu können ohne die Orientierung zu verlieren, dafür benötigen wir unseren „body“. Bewegungen, Gerüche, Gefühle, zwischenmenschliche Beziehungen und Raum bilden das dichte Geflecht der sensorischen Eindrücke unseres Körpers. Und das alles ist das Fundament unserer Sprache!
Warum doziere ich hier aus meinem Lieblingsfach der Kognitions-psychologie und der Aneignungstheorie? Weil ich es mag, wenn gefragt wird: „Von wo guckst du?“. Weil meinem Gegenüber dann bewusst ist, dass es immer verschiedene Sichtweisen gibt und sie an meiner interessiert sind und sie nicht nur in ihrer Sichtweise Sachverhalte wahrnehmen und möglicherweise (ver-)urteilen wollen.
So – das solltet ihr wissen, denn nun folgen meine ganz persönlichen Erzählungen aus meinem Leben.
Die prägenden Jahre meine Kindheit
Mein Vater war sehr belesen und interessiert an der Lebensweise anderer Menschen und Kulturen, ihren religionsgeprägten Ritualen und moralischen Vorstellungen, eben an ihren „Bildern“ im Kopf.
Wenn er meinem Bruder und mir manchmal daraus begeistert berichtete, spürten wir seine Faszination für die Vielfalt des Lebens.

Auch konnte mein Vater mitten beim Heidelbeeren sammeln (ich komme aus dem Schwarzwald und das war in den 60er Jahren für die ganze Nachbarschaftsgruppe üblich) regelrecht philosophieren: „Füge anderen nicht zu, was du selbst nicht ertragen möchtest“. An solchen Tagen begegneten mir durch ihn nicht nur Kant, sondern auch Christian Morgenstern, Heinz Erhardt, Ringelnatz, Zille oder Wilhelm Busch. Nur wusste ich das damals noch nicht.
Mein Vater konnte die mindestens zehnköpfige Gesellschaft mit Leiterwägelchen für das Vesper den ganzen Sonntag bestens unterhalten. Er war es, der uns Kinder bestärkte, den eigenen Horizont auszubreiten. Nachzudenken, tiefer einzutauchen. Denn sonst sei der Mensch gefährdet immerzu auf einen Fleck an der Oberfläche des Daseins zu starren. Er war es, der damals schon für seine Tochter versuchte das abendländisch-christliche Rollendenken hinter sich zu lassen und Gleichberechtigung und Akzeptanz am besten gar nicht mehr im Alltag thematisieren zu müssen.
Als er mich beispielsweise Mitte der 60er-Jahre im Gymnasium anmeldete, waren wir nur fünf Mädchen in meiner Klassenstufe.
“This will be a brave new world- for me, for you, for everyone”. Und es war viel Arbeit und ist es noch heute. Denn ihr wisst ja: Lässt man sich nicht im großen Strom einfach mittreiben und macht nicht, was alle machen, dann wird es schwer sein.
Das war, bevor meine Eltern 1964 ein Haus bauten. Bevor mein Vater keine Zeit mehr hatte das Leben zu genießen. Meinem Vater war das Eigenheim als Heimatvertriebenem (aus Pommern) extrem wichtig und er opferte dafür alles: Seine Leselust, seine Kommunikationslust, seinen Humor. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Versteht ihr? Wahrscheinlich war es die tägliche existenzsichernde Sorge und die viele Arbeit, die ihn für mich komplett veränderte und man ging ihm besser aus dem Wind. Ab da habe ich gelernt „man muss wirklich immer mit allem rechnen“.
Unter der Oberfläche
Ich kann mich noch bruchstückhaft an meine Kindergartenzeit erinnern. Vor allem erinnere ich „Tante Ruth“. Sie war die Erzieherin und wohnte über dem Kindergarten im evangelischen Gemeindehaus. Ich wurde dort mit vier Jahren aufgenommen, obwohl meine Eltern in keiner kirchlichen Organisation waren – und ich liebte die Kindergärtnerin. So oft wie möglich legte sie nämlich auf ihren transportablen Plattenspieler während der morgendlichen Vesperpause klassische Musik auf. Bei „Peter und der Wolf“ spüre ich bis heute die steigende Anspannung und den damaligen Grusel. Und wenn ich jetzt, 65 Jahre später durch hohes, im Wind schwingendes Gras oder an Bächen entlang gehe fühle ich noch immer, wie perfekt die „Wassermusik“ der Schallplatte diese Landschaftsstimmung traf.

Auch erinnere ich noch so manche Begebenheit oder Person aus meiner anschließenden Grundschulzeit. Ich freute mich sehr irgendwann auch dabei sein zu dürfen: Die Kinder in der Siedlung trafen sich nämlich alle, egal welche Schulstufe, morgens um 7.00 Uhr für den gemeinsamen dreißigminütigen Schulweg. Das Erstklässler-Leselernbuch habe ich heute noch. War man bis Seite 139 durch mit dem Alphabet lernen, konnte gleich mit „Schreibschrift üben für Klasse zwei“ weiter gemacht werden. Mit nur diesem einen Arbeitsbuch verstand es „Frau Kober“ differenziert für ihre Klasse das Lesen und Schreiben zu vermitteln. Meines Wissens hat auch niemand eine Klasse wiederholen müssen – das kam bei mir dann später in der Mittelstufe aber mal vor. Mein Ex-Nachbar Eugen organisiert bis heute alle fünf Jahre einen Jahrgangstreff – ich hoffe nächstes Jahr zum 70sten werden wieder wie immer alle dabei sein. Erinnerungen an den Dritt-Klass-Lehrer habe ich nur insofern, dass wir es ihm zu verdanken haben, dass wir „die Mundorgel“ bis heute fast auswendig singen können. Guten Morgen, aufstehen, hinter den Stuhl treten, ein Lied, setzen. Die vierte Klasse besuchte ich dann schon in einer Dorfschule. Meine komplette Klassenstufe bestand aus 6 Schüler*innen. In jeder Zimmerecke saß eine Klassenstufe, ein großer Ofen stand in der Mitte des Raumes, der Lehrer wohnte mit Familie über dem Klassenzimmer und auf der Bühne war das Holz für den Winter gestapelt. Vor Schulbeginn hatte der Lehrer morgens anzuheizen.
Wie bei den Buddenbrooks
Und dann sehe ich im Fernsehen irgendeine Verfilmung eines historischen, deutschen Romans, in dem der Hausherr an der Front des Tisches exaltiert darauf aufmerksam macht, dass hier nach guter, feiner zentraleuropäischer Sitte anständig mit Messer und Gabel gegessen wird. Wobei auf gar keinen Fall Kartoffeln mit dem Messer geschnitten werden: Man zerteilt sie fein und elegant mit der Gabel – wie man das eben in guten deutschen Familien lernt. Und ein absolutes „no go“ sind Ellenbogen auf dem Tisch.
Spätestens bis zur Konfirmation ist zu wissen, wie z.B. für ein Sieben-Gänge-Menü eingedeckt wird und welches Besteck und welche Gläser der Reihe nach zu nehmen sind. An den Essmanieren sieht man schließlich aus welchem Stall man kommt.
Diese Szene fühlte ich so sehr: Bei meinen französischen Austauscheltern hatte ich zum ersten Mal im Leben eine Hummerschere in der Hand und das Ergebnis war ein riesiger Fettfleck auf der Hose meines Tischnachbarn. Ich durfte aber weiterhin noch zu Besuch kommen. Leider konnte ich ihr auch nicht mehr erzählen, dass ich anschließend in amerikanischen Haushalten ganz ohne Töpfe war, und ich bin mir nicht sicher, ob es umfangreich Besteck gab.
Meine eigene Großmutter ist auf einem großen Gutshof als Luise von …(also irgendwie adlig) im heutigen Polen aufgewachsen. Im Zweiten Weltkrieg ist sie mit meinem Opa und mit zwei ihrer drei Kinder im Leiterwägelchen (mein Vater war nicht dabei, denn er war mit 17 Jahren schon als Soldat an der französischen Front) und einem Koffer in der Hand über die gefrorene Ostsee geflohen. Sie besaß sonst nichts mehr. Ich weiß bis heute ganz wenig über sie – sie erzählte nichts. Ich kann mich vor allem an ihren (für mich unerklärlichen, aber vielleicht der aus dem Adel übriggebliebene) Dünkel erinnern.
Und ich erinnere mich an meinen heimlichen Groll, wenn ich als einzige Enkeltochter zu Geburtstagen oder Weihnachten etwas „Gutes“ für die Aussteuer geschenkt bekam: Damastdecken, Silberlöffel, Geschirr oder Messerbänkchen. Sie hätte ebenso oben am Tisch sitzen können. Wovon ich aber heute sehr überzeugt bin, ist, dass meine pommer`schen Großeltern fassungslos über die politischen Strömungen in der europäischen Welt wären. Nach knapp 90 Jahren nochmals ein ähnliches „Klima“ und zusätzlich eine unglaubliche Verrohung im Miteinander erleben zu müssen: Nie hätten sie sich das vorstellen können!
Tiefgang mit Schwiegermutter
Mit meiner Schwiegermutter konnte ich mich immer gut unterhalten – selten war das allerdings möglich. Sie kam nie alleine oder wir waren eben dort nur zum Essen eingeladen. Ich glaube auch heute, es fand sich eigentlich nichts, wobei auch mein Schwiegervater hätte mitmachen wollen. Meine allererste Begegnung mit ihm war auch irgendwie seltsam unangenehm für mich und seinen Sohn, mein Partner.
Ich war eine ziemlich neue Freundin seines Sohnes – und dann auch noch unverhofft schwanger mit seinem ersten Enkelkind und dann auch noch eine mit akademischem Beruf. „Wieso hast du denn so eine genommen?“ Und dann spreche ich auch noch hochdeutsch. Beide Eltern meines Partners sprachen nach über 30 Jahren in Deutschland immer noch hörbar mit ungarischem Akzent und kamen aus einfachsten Verhältnissen. Sie sind (ebenso wir meine Großeltern) nur mit einem Koffer in der Hand aus ihrer Heimat weg gegangen. Sie machten sich Ende 1956, nach dem ungarischen Volksaufstand gegen die repressive Politik der kommunistischen Partei, auf den Weg. Denn das von Moskau installierte Kádár-Regime schritt massiv gegen die Revolutionäre ein. Über 200.000 Menschen flohen. Und meine, noch sehr jungen, Schwiegereltern nutzten diese politische Situation. Und auch, um von dem gewalttätigen Opa wegzukommen.
Auf der Rückfahrt nach Hause weihte mich dann mein zukünftiger Ehemann ein, wie sein Vater die Beziehungen zu seinen Kindern meist sehr nüchtern und ziemlich konservativ zeigt. Auch er gehörte eben zu der Generation, die Ängste (oder jegliche Gefühle) für sich behielt.
Als wir unser Eheleben nach sechszehn Jahren einvernehmlich getrennt weiterlebten, waren seine Kommentare zum Sohn nicht viel anders: “Sag`mal, was bist du denn für ein Mann – hast du deine Frau nicht im Griff?“ Meine Schwiegermutter allerdings fragte auch mich selbst, wieso es so weit kommen konnte: „Wenn er dich doch nicht schlägt, nicht betrügt und das Geld nicht verspielt – wieso dann eigentlich?“ Ich erzählte ihr ein bisschen, wie unser Alltag seit Jahren aussieht und was mich dabei kaputt gehen lässt.
Ihre Antwort daraufhin hallt bis heute in mir nach: „Familie ist das Wichtigste – so wurde ich erzogen. Berufsausbildung für Töchter nicht nötig. Was in der Küche, im Haushalt, für die Laune des Hausherrn beherrscht werden muss, lernt sie von der Mutter.
Familie zusammenzuhalten ist ihre Aufgabe – und wenn es bis zur Selbsterniedrigung geht. Ich kann dich verstehen.“ Sich für die Beweggründe eines anderen zu interessieren und nicht zu verurteilen hat sie bis ins hohe Alter beibehalten. Diese großartige Frau lebte, wie viele, unter den patriarchalen Verhältnissen zwar geduckt, aber mitdenkend.
Lauf der Dinge
Es ist doch so: Kommt mensch nicht durch kompletten Zufall von der einen Situation in die andere? Offenheit ist nur die Voraussetzung.
In der 10. Klasse erzählte mir ein Mitschüler, dass er sich bei einem der größten Arbeitgeber in meiner Kleinstadt für eine kaufmännische Ausbildung bewerben wird. Er probiert es, auch wenn die nur vier Auszubildende jedes Jahr nehmen. Ich wusste selber nicht richtig, ob ich weiter auf die Schule gehen will oder mich möglichst schnell aus unserem autoritären Haushalt ausklinken sollte. Simon de Beauvoir riet doch, dass die „wahre Freiheit ökonomisch ist“. Ich bewarb mich jetzt halt mal auch, wurde zu spezifischen Gesprächen und Tests eingeladen – nahm alles locker und leicht und wollte einfach einmal schauen, wie das so geht. Ich erzählte es niemanden, bis die Einladung zur Ausbildungsvertragsunterzeichnung an meine Eltern ins Haus flatterte. Ohne irgendeine Diskussion, eher wortlos gingen sie mit mir hin.
Genauso ähnlich war die Situation, als mir auf einem Fest die Schwester eines Kommilitonen meines Freundes von ihrem 2. Bildungsweg in der Nachbarstadt erzählte.
1978 war das persönliche Miteinander das, was heute im 21. Jahrhundert eine gute digitale Vernetzung bedeutet. Ich arbeitete schon das zweite Jahr in der Verwaltung und dachte schon ein Weilchen über eine Jobveränderung nach. Also machte ich mir begierig Notizen: Wer bietet diese Abendschule an, was kostet das, was sind die Aufnahmebedingungen?
Nach zwei Jahren bestand ich so die Aufnahmeprüfung für Nichtabiturientinnen an der Pädagogischen Hochschule. Nicht, dass ich wirklich Lehrerin werden wollte. Ich wollte vor allem studieren – Kunst studieren. Durch meine Ausbildung und die Berufstätigkeit erhielt ich elternunabhängiges BaföG – musste meine Eltern nicht für ein Studium um Erlaubnis bitten. Das war wichtig, denn sie hätten mich nie unterstützt, da ich doch so einen sicheren Job habe und wahrscheinlich sowieso noch Familie gründen würde.
Ich kann mich nicht erinnern obergestresst gewesen zu sein. Arbeitete auch weiterhin an zwei Wochenenden beim Rundfunk. Gute Noten schrieb ich ebenso. Zwischendrin beschlich mich sogar das Gefühl, womöglich wurde etwas übersehen oder verwechselt, weil die Einser-Noten zu schreiben mir so easy vorkamen.
Beeindruckt war mein Vater aber erst, als ich von meinen ca. 22.000,00 DM-BaföG-Schulden vom Staat die Hälfte erlassen bekommen habe. Als Belohnung sowohl für die jeweils guten Staatsexamina und den Diplomabschluss, als auch Unterlaufen der Regelstudienzeiten und für das Soforttilgen. Ich war mittlerweile neunundzwanzig Jahre alt und zum ersten Mal in meinem Leben schenkte mir mein Vater Geld: Er überwies die 11.000,00 DM und ich 5.500,00 DM an meinen Bruder – er meinte es solle wenigstens gerecht sein.
Als ich also das erste Mal Geld geschenkt bekam, für meine herausragenden Leistungen, bekam mein Bruder die gleiche Menge, aber für seine bloße Existenz. Die Geschichte hört hier noch nicht auf. Sie geht mit meinen eigenen Kindern weiter. Was möchte ich ihnen mitgeben? Werde ich es schaffen fair zu sein?

PeBi ist im Schwarzwald aufgewachsen und wohnt mittlerweile in Reutlingen in Baden-Würrtemberg. Sie ist Spieleentwicklerin, Sprachförderin, Autoethnografin, Autobiographin, Storytellerin. Sie ist außerdem Mutter von drei Kindern.
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