REGINA SCHLEHECK für #kkl45 „Mutter, Vater, Eltern“
Oh, wie schön ist Paslama
Wir sind eine moderne Familie. Patchwork sagt Mama dazu. Die Decke auf unserem Gästebett heißt auch Patchwork und sieht ganz lustig aus, lauter bunte Quadrate aneinander. Meine Familie ist ziemlich chaotisch, aber Mama sagt immer, das ist eben so, und Demokratie wäre, wenn alle sich trotzdem einigen können, das versucht sie zumindest immer hinzukriegen, aber meistens geht es in die Hose, und ihr tut anschließend der Kopf weh.
Letztes Jahr wollten wir zum Beispiel in Urlaub fahren. Bis dahin war die Welt ja noch einigermaßen in Dortmund. Ich meine, wir lebten halt in Dortmund. Und Dortmund ist ja okay, wenn man da wohnt, aber Urlaub ist halt was anderes. Mama hat also den Atlas aufgeschlagen. Und damit fing’s schon an. Weil sie nämlich Seite sechzehn-siebzehn aufgeschlagen hat, und Olli wollte lieber Seite hundertsiebenunddreißig, obwohl er gar nicht wusste, welche Nummer das ist und wie man „Seyschellen“ schreibt, aber sein bester Kumpel aus dem Kindergarten kam damals da her. Wenn’s nach mir gegangen wär, hätte der Stadtplan von San Francisco gereicht, aber das war mir ja schon klar, dass das nicht drin war. Opa schwärmte von der Masurischen Seenplatte, weil er doch vor seinem Tod unbedingt noch auf den Spuren seiner Vorfahren wandeln wollte, und Mama hatte schon wieder Kopfschmerzen.
Aber zu Hause bleiben wollte sie auch nicht, schließlich findet sie in Dortmund nie einen, hat sie gesagt, die Männer hier kennen nur Borussia und keine Kultur, so wärs jedenfalls bei unserem Vater gewesen, und Opa hat gesagt, dann geh doch in die Küche und back dir einen, weil er meint, dass Liebe sowieso durch den Magen geht.
Aber da müsste ja erst mal einer kommen, hat Mama gesagt, und überhaupt wär das ein völlig antiquiertes Weltbild, und wenn sie noch mal einen ranließe, dann sollte der gefälligst Herzensbildung haben und seine Hemden selber bügeln.
Und dann ist Opa ganz böse geworden, weil sie ja nur seine Schwiegertochter ist und er auf Papa nix kommen lassen wollte, über Tote soll man schließlich nicht schlecht reden, und Papa hätte sowieso nie Hemden getragen. Das ist es ja grade, hat Mama gesagt, und Olli sollte jetzt mit dem Zeigefinger irgendwo hin tippen, weil er der Kleinste ist und sowieso nicht lesen kann und daher unparteiisch ist. Aber Olli hat trotzdem die Augen zugemacht, weil er so aufgeregt war, und dann hat er den Finger eine halbe Stunde lang kreisen lassen, bis er schließlich irgendwo ganz unten in Bayern gelandet ist, wo keiner lesen konnte, wie es heißen sollte, aber Mutter hat geschworen, es hieße „Paslam“, aber ich konnte überhaupt nix erkennen, weil an der Stelle gerade so viele Berge waren und Olli nicht mehr losgelassen hat, und wahrscheinlich hat sie „Partenkirchen“ und „Alpen“ durcheinander geschmissen oder von mir aus auch „Ammersee“ oder „Amper“. Ich meine ja schon lange, dass Mama eine Brille braucht, aber sie hat immer gesagt, mit Brille findet sie erst recht keinen, und Opa hat immer gesagt, stimmt, sie würde sowieso immer viel zu kritisch gucken. Jedenfalls hat Mama den Atlas mit Schwung zugeklappt und gesagt: „Auf nach Bayern!“, und jeder war mal wieder unzufrieden, vor allem Olli, der sich den Finger gequetscht hatte.
Olli war im Auto dann aber ganz ruhig, und das lag nur daran, dass wir drei Stunden im Stau standen. Oder vielleicht standen wir auch nur zwei Stunden im Stau, und eine Stunde lang trat Mama auf das Gaspedal und dann gleich wieder auf die Bremse. Normalerweise wird mir immer schlecht, wenn ich beim Fahren lese. Aber weil da so viel Stau war, hab ich, immer wenn das Auto anhielt, Olli aus seinem Bilderbuch von dem Tiger und dem Bären vorgelesen, die nach Panama wollten. Wenn Mama wieder Gas gab, hab ich aufgehört und schnell hochgeguckt, und Olli hat seine Hände zusammengepatscht und gesagt: „Oh, wie schön ist Paslama!“, und am Ende ist er in seinem Kindersitz eingeschlafen. Mir war dann trotzdem kotzschlecht vom Vorlesen, deshalb musste Mama rechts ranfahren, und ich fand, Opa hat ganz Recht, dass Liebe durch den Magen geht, schließlich hab ich meinen Bruder ganz schön doll lieb, dass ich ihm die ganze Zeit vorlese, obwohl es mir beim Autofahren immer den Magen rumdreht, wenn ich in ein Buch gucke.
Also ganz weit waren wir jedenfalls noch nicht gekommen. Aber als ich mich dann ausgekotzt hatte, hat Mama gesagt, sie muss eh tanken, und wir sollten wohl besser eine Pause machen. An der Straße war jedenfalls ein ganz großer Schriftzug, und da stand „Bayer“, einmal kreuz und quer, und Opa hat gesagt, na prima, jetzt hast du doch erreicht, was du wolltest, wir sind in Bayern.
An der Tankstelle hat Mama dann gefragt, wo man in Ruhe einen Kaffee trinken kann, und der Tankwart hat gesagt, um die Ecke wär ein kleiner Baggersee, an dem er und seine Mutter wohnen und auch eine Ferienwohnung anzubieten hätten, und seine Mutter würde meiner Mutter bestimmt super gern einen Kaffee kochen, und für mich einen Tee, weil ich doch nicht so aussähe, als könnte man mit mir so bald weiterfahren.
Und da er ein weißes Hemd und eine gute Kinderstube hatte, wie Mama meinte, und der Tankwart auch gleich seine Tanke zu machte, um uns den Weg zu zeigen, und Opa prompt wissen wollte, ob seine Mutter wohl auch einen Apfelstrudel backen könnte, schließlich würde so ein Kaffee ja nicht satt machen, sind wir dann ganz demokratisch am Silbersee in Leverkusen gelandet, erst mal für zwei Wochen, aber mittlerweile für immer.
Obwohl ich ja immer noch meine, Urlaub ist was anderes.
REGINA SCHLEHECK
1959 in Wuppertal geboren – in Köln aufgewachsen
1986 Studium Germanistik, Sozialwissenschaften, Sport in Aachen abgeschlossen
10 Jahre in Herford, seit 1996 in Leverkusen wohnhaft
geschieden, fünf mittlerweile erwachsene Kinder, Oberstudienrätin an einem Berufskolleg
nebenberuflich Referentin an Erwachsenenbildungseinrichtungen, Autorentätigkeit seit 1999, Lektorat und Herausgeberschaft
Schwerpunkt Kurzprosa und Hörspiele, aber auch Erzählungen, Drehbücher, Theaterstücke
viele Auszeichnungen und Veröffentlichungen
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