J.C. Borkenstein für #kkl45 „Mutter, Vater, Eltern“
Tanzende Kreisel
Die Sonne schien durch den Wintergarten direkt auf seine Zeitung. Das Familienfoto auf der Tasse vom Toskana-Urlaub verblasste. Hinter ihm summte die Geschirrspülmaschine. Wie jeden Morgen ließ er sich in seinen dunkelroten Ohrensessel fallen, auf den er so lange gespart hatte und blätterte die Seiten durch, um das Fettgedruckte zu überfliegen. Ein Vogel knallte gegen die Terrassentür. Es schien ihn nicht zu kümmern.
Nach der Zeitung atmete er tief durch und fragte sich, was er noch machen könne. Der Tag wäre noch so jung, dachte er. Die Waschmaschine hatte er schon gestern repariert und die alte Glühbirne in Lenas Kinderzimmer durch eine Energiesparlampe ausgetauscht. Er musste gar nichts mehr, er konnte alles. Das ist Urlaub, dachte er, einfach Langeweile.
Das Telefon auf dem Tischchen neben seinem Sessel vibrierte. »Ja, bitte?« entgegen er und hörte eine Weile zu.
»Nein, das kann gar nicht sein. Ich habe nichts bestellt. Wiederhören.« Pause.
»Hören Sie, ich weiß nicht, wer in Ihrer Firma die Bestellungen entgegennimmt, aber ich brauche weder Windeln noch ein Bobbycar. Unsere Tochter geht schon zur Schule.« Er rollte mit den Augen, klickte mit dem Kugelschreiber und hörte der Frau vom Inkasso-Büro geduldig zu, bis er sich auf einmal vorbeugte und hektisch mit dem Kugelschreiber tickte. »Hören Sie mir mal zu. Nein, jetzt hören Sie mir zu! Ich kann nichts dafür, wenn Ihre Computer die Bestellungen durcheinanderbringen.
Und es liegt auch nicht in meiner Verantwortung, wenn Rechnungen von Bestellungen, die ich nicht aufgegeben habe, unbezahlt bleiben. Bitte? Ja. Genau.
Es ist wohl das Beste, wenn Sie die Polizei verständigen. Das Telefonat ist hiermit beendet. Guten Tag.« Er lehnte sich zurück und legte die Beine auf den Hocker. Als sich der Schlüssel in der Haustür drehte und er Schuhe ins Regal rutschen hörte, fragte er: »Schon Schluss?«, mit einem Blick auf die Uhr über dem Toaster, den er und seine Frau vor über 30 Jahren eigentlich nur provisorisch hatten aufhängen wollen.
»Mittwochs ist doch mein freier Tag«, hörte er ihre Stimme. »Ich dachte, heute wäre Dienstag. Hauptsache, ihr habt auch mal Unterricht.« Auch wenn sie hinter ihm stand, konnte er sich vorstellen, wie sie mit einem Apfel zwischen den Zähnen auf ihrem Handy tippenden die Schultern zuckte, als er Achtung! Treppe«, sagte. In solchen Momenten dachte er an die Vergangenheit. Ihre ersten Gehversuche.
Das erste Mal Treppe steigen. Der erste Liebeskummer. Und irgendwie war doch immer alles gut gegangen. Er legte die Zeitung auf das Tischchen und tauschte es gegen einen Fahrradkatalog.
Beim Frühstück hatten seine Frau Ingrid und er darüber gesprochen, sich E-Bikes zu gönnen, um im Urlaub mehr Sport zu machen. Er mochte es, wenn sie »Dann können wir das olle Auto auch mal stehen lassen«, sagte. Denn er hatte das Auto damals gekauft, weil sie es sich gewünscht hatte. Plötzlich wurde sein Schienbein ganz warm. Und mit dieser Sonnenkraft laden sie bald die Akkus ihrer Fahrräder, freute er sich.
Die Kühlschranktür schlug zu, er schreckte hoch. »Bist du auch schon da?« Er sah ihr Lächeln, während sie den Rosenkohl auf dem Brett aus Olivenholz halbierte, das er ihr zum Fünfzigsten geschenkt hatte.
»Meinst du, wir sollten einen Nachhilfelehrer engagieren?«, wollte er von seiner Frau wissen.
»Warum?«
»Lenas Unterricht fällt schon ständig aus, findest du nicht? Sie hat heute schon wieder Schluss« Dann griff er nach Zettel und Stift, sagte »Ah!« und antwortete auf ihr »Was‘ denn nun?«, mit »Ich muss den Bericht noch fertig machen.«
»Hast du nicht Urlaub?«
»Ja«, lächelte er. »Aber mir ist gerade noch etwas eingefallen.«
Mit geschwungenen Linien notierte er die Gedanken, die er nicht vergessen wollte: –
Return on Invest-, -Letter of intend, -Snickers.
Ein Deckel schepperte auf einem Topf. Mit einem Buch in der Hand setzte sie sich zu ihm.
»Weißt du, woran ich letztens gedacht habe?«, fragte er den Stift beiseitelegend. »Ob wir doch noch ein Baby machen sollten.«
Behutsam legte sie ihr Buch in den Schoß.
»Sind wir dafür nicht ein wenig alt, Werner?«
»Man ist doch immer nur so alt, wie man sich fühlt«, sagte er.
»Das stimmt«, sagte sie und streichelte seine Hand. Dann sah er eine Fliege seinen Daumen kitzeln. Im Flur knarzte eine Treppenstufe.
»Komm«, hörte er Lenas Stimme.
»Mathe, oder was ist es heute?«
»Wir gehen baden.«
»Kannst du das nicht schon lange alleine, Lena?«, fragte er.
»Ich dachte, man ist immer nur so alt, wie man sich fühlt?«
»Sag’ ich doch! Und weißt du, worüber ich letztens nachgedacht habe, Lena? Wir sollten noch ein Baby machen.«
»Werner, ich bins. Ingrid«, sagte seine Schwester und löste die Bremse vom Rollstuhl.
J.C. Borkenstein (33) programmierte und verkaufte seine erste Website im Alter von 15 Jahren. Wenige Monate vor der Geburt seines ersten Kindes, kündigte er seinen damaligen Job, um seinen ersten Roman „Das Glück der Zweifel“ zu schreiben. Er arbeitete als »Director Product« eines Hamburger KI-Unternehmens. J.C. Borkenstein lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in der Nähe von Kiel an der Ostseee. Er genießt Abenteuer und Gelassenheit gleichermaßen. Gerne reist er wochenlang, nur mit einem kleinen Rucksack auf dem Rücken durch die Welt, ohne zu wissen, wo er morgen schlafen wird. Schon als Schuljunge schrieb er seine ersten Essays. Seine Geschichten handeln von den größten Kämpfen, die Menschen austragen können. Von den Kämpfen mit sich selbst.
„Sein letztes, drittes Buch veröffentlichte er im DCO Verlag.
Titel: Doktor A.: Der Verlorene Weltmeister“
Über #kkl HIER
