Turmgeläut

Maria Lange-Otto für #kkl45 „Mutter, Vater, Eltern“




Turmgeläut

Durch meinen Vater lernte ich früh den Unterschied von Klang und Ton im Leben.

Und immer stand sie auf dem Turm, rief mir etwas zu, doch ich verstand kein Wort.

Dann musste ich mich entscheiden und heute weiß ich:

Man entdeckt erst spät, was einen geprägt hat.

12h Mittag, die Glocken läuten, läuten zum Engel des Herrn.

Debatte und Entscheidung in der Hauptstadt und ich mittendrin,

soll berichten, überzeugen und hoffen auf Einsicht.

Sie wollen das Kirchengeläut verbieten?   Das geht nicht!

So bin ich denn hier, um Ihnen meine Geschichte zu erzählen.

Ich heiße Adam, bin 65 Jahre, Glockenstimmer und einer der letzten Beier im Land.

Das Glockengeläut der Kapelle, des Doms, der Kathedrale

in meinem Leben oft vernommen, gesucht und ihm gelauscht.

Froh gelaunt oder schmerzverbunden drängt es von der Spitze des Turms,

von dort, wo Metall einen Namen hat:

der Dicke Pitter, die Helle Schelle, das Wache Kind.

Hier und da, ein Sonnenschein fällt auf die Glockenhaut,

lässt dunkelbunt und lichtentfernt sie glänzen und jeder unten weiß,

sie sind immer da, immer bereit, auch wenn`s brennt.

Als Kind habe ich mit meinem Vater Turm und Geläut

der Dorfkirche beaufsichtigt, das hat mich erzogen, das hat mich geprägt.

Dem Rhythmus gerecht, in der Zeit begrenzt, zog ich mit ihm den Seilstrang,

und mein Vater sang im Beierton:

Bindung zum Himmel    ist    Bindung zum Engel,

Bindung zum Himmel    ist    Bindung zum Engel.

Adam, hörst du sie?

Wir singen das Lied und sehen so viel,

wir geben Geleit, denn wir wissen Bescheid,

wir kennen die Menschen, ihre Freude, ihr Leid,

wir bringen die Kraft, wenn der Trost so weit,

wir teilen die Tage in Arbeit und Rast,

wir nehmen dem Unglück jegliche Hast,

wir schlagen zur Stunde und den Bogen ins Rund,

für Gedankenfreiheit und Glaubensgrund,

wir lassen dem Geist und der Zeit freie Wahl,

doch den Zeitgeist schlagen wir Glocken allemal.

Nur, wenn sollen wir schweigen, reißen Faden und Reigen,

zu Welten und Sinnen hinter den Dingen.


Verehrte Anwesende,    

Sie ließ sich damals auf dem Turm nicht beirren, denn sie hatte entschieden.

Ich lief ihr nach, stieg hoch und blieb. So teilten wir die Liebe, die Arbeit und das Leben

und ich verstand:  Es gehört zum Schwersten und Anspruchsvollsten im Leben, sich zu entscheiden.

Heute lade ich sie von Herzen ein in mein Dorf, dann sehen sie auf zum Turm,

dann hören sie den Gesang, den Gesang der Glocken  –  und dann entscheiden sie.    




Maria Lange-Otto

1957 in Düsseldorf geboren, Studium in Neuss, Dortmund und Düsseldorf, unterrichtete an Schulen in Düsseldorf und Neuss, Zusatzausbildung zum systemischen Schulcoach, leitete 20 Jahre Fortbildungen für Lehrkräfte.

Seit 2017 ist sie als freie Autorin unterwegs, Lesungen in Neuss, Düsseldorf, Wuppertal und Bonn. Sie war Co-Leitung beim Neusser Autorenkreis, Mitherausgeberin der Anthologie „neuss literarisch“, ist Mitglied im Freundeskreis Düsseldorfer Buch, in Die Gruppe 48, in Nordbuch und im Kulturbund Wagrien.

Bisher sind drei Werke von ihr im Skript-Verlag, Neuss erschienen, „Geteilte Tage“, „Weiter Blick“, „Schrittweise Glück“. 
Maria Lange-Otto lebt an der Ostsee.







Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Hinterlasse einen Kommentar