Lieber Alois – ein Brief

Rebekka Weber für #kkl45 „Mutter, Vater, Eltern“




Lieber Alois – ein Brief

Lieber Alois,

es ist ein freundlicher Herbstnachmittag und so warm, dass ich mich mit meinen Unterlagen, Familienalben und Fotos nach draußen auf den Balkon gesetzt habe.

Hier ist nun mein Brief, den ich dir schon seit langem schreiben wollte und viele Jahre vor mir hergeschoben habe. Es gibt so vieles, dass ich dich fragen möchte und so vieles, über das wir reden müssten! Obwohl ich weiß, dass ich nie eine Antwort von dir erhalten werde, möchte ich dir heute doch schreiben und hoffen, dass du mir irgendwie ein Zeichen gibst, und sei es auch nur ein klitzekleines.

Ich habe dich ja persönlich nie kennengelernt und es fällt mir schwer, dich mit Vater anzureden, obwohl du es natürlich bist. Deshalb verzeih, dass ich meinen Brief mit ‚Lieber Alois‘ beginne. Charlotte, meine Mutter, konnte mir nur wenig von dir erzählen. Du hattest ja aus deinem Vorleben ein großes Geheimnis gemacht. Aber sie hat dich geliebt, ein Kind mit dir gezeugt und es ausgetragen, obwohl sie mit dir nicht verheiratet war. Gut, dass sie es gemacht hat, denn sonst wäre ich heute nicht auf der Welt!

Leider besitze ich nur drei Fotos von dir: Zwei zeigen dich als Soldaten im Alter von circa 40 Jahren. Sie wurden im 2. Weltkrieg aufgenommen. Auf dem ersten trägst du eine einfache Uniform. Du sitzt ganz lässig auf irgendeinem Pfosten und blickst lächelnd und selbstbewusst in die Kamera. Auf dem zweiten Foto trägst du eine andere, ranghöhere Uniform und blickst nicht mehr direkt in die Kamera, sondern wendest deinen, nun sehr ernsten Blick etwas ab. Auf dem dritten und letzten Foto bist du auf der Hochzeit meines Onkels, Charlottes Bruder, zu sehen. Das war ein Jahr vor deinem Tod. Da warst du 51 Jahre alt. Du trägst einen modischen Anzug, blickst aber nicht in die Kamera, sondern hast die Augen niedergeschlagen. 

Wenn ich dich so auf den Fotos betrachte, kann ich sagen, dass du ein gut aussehender Mann warst: groß, schlank und blond, mit einer markanten Nase. Als ich noch ein Kind war, hab‘ ich dich immer idealisiert und auf einen Sockel gestellt. Später, nach vielen Jahren, als ich meine Halbgeschwister, die du in H. mit deiner Ehefrau gezeugt und in die Welt gesetzt hast, kennengelernt habe, haben diese schnell versucht, diesen Sockel zu demontieren und dich von ihm herunterzuholen. Sicher haben sie in vielen Punkten recht, trotzdem konnten sie nicht das Bild, das ich mir von dir gemacht hatte, völlig zerstören.

Und nun, reden wir doch einmal Klartext…

Was hat dich dazu bewogen, deine Familie in H. zu verlassen und in meiner Geburtsstadt still und heimlich ein neues Leben anzufangen? Hattest du keine Skrupel gehabt, deine Ehefrau und deine Kinder allein zu lassen? Bitte missversteh‘ mich nicht, ich mache dir keine Vorwürfe – das würde ich mir nicht anmaßen – ich würde nur gerne den Grund wissen.

Wie ich bei meinen Nachforschungen erfahren habe, waren deine ältesten Kinder schon erwachsen, aber die jüngsten noch schulpflichtig oder in der Lehre. Deine Familie wusste ja gar nicht, wo du lebtest und sie hat erst durch die Nachricht von deinem Tod erfahren, wo du deine letzten Lebensjahre verbracht hattest. Deine Frau und deine Kinder hatten sich bestimmt große Sorgen gemacht. Und Charlotte, meine Mutter, ist als allen Wolken gefallen, als sie auf dem Jugendamt erfahren hat, dass du gar nicht geschieden warst. Über deine Familienverhältnisse hattest du meine Mutter ja immer im Unklaren gelassen.

Deine Kinder habe ich erst kennengelernt, als ich 33 Jahre alt war. Marje, deine älteste Tochter und meine Halbschwester, hat mir erzählt, dass du sehr krank ausgesehen hättest, als du aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft nach Hause kamst. Ich habe sie gefragt, ob nicht alle Männer, die damals heimkehrten, müde und krank aussahen? Sicher, meinte sie, aber bei dir kam noch hinzu, dass du schon von deiner Krebserkrankung gezeichnet gewesen wärst. Marje erzählte auch, dass du dich bei deiner Rückkehr sehr verändert hättest. Aus dem lebenslustigen Mann, der du einmal warst, wäre ein stiller und verschlossener Mensch geworden.

Meiner Mutter hast du dann später erzählt, dass du im Krieg als Aufseher in Mannheim, in einer Nebenstelle des KZs Dachau, gearbeitet hättest. Was magst du dort alles erlebt und beobachtet haben? Du warst doch kein Nazi, sondern ein Mitläufer, wie ich den Erzählungen von Marje gehört habe. Und als du vor dem amerikanischen Kriegsgericht gestanden hattest, hätten sogar ehemalige Häftlinge sich für dich ausgesprochen und Gutes über dich berichtet.  Und als du mit Charlotte zusammen warst, fiel ihr auf, dass du Menschenansammlungen scheutest und räumliche Enge nur schwer ertragen konntest.

Obwohl du deine Familie in H. verlassen hattest und du durch deine furchtbaren Kriegserlebnisse sicherlich traumatisiert warst, hast du mit Charlotte noch ein Kind – mich – gezeugt. Dein plötzlicher Tod mit nur 52 Jahren hat dich jedoch von meiner Mutter und mir fortgerissen. Du hattest einen Gehirntumor, bist auf der Straße umgefallen und dann kurz danach im Krankenhaus gestorben.

So wurde ich mit nur vier Monaten Halbwaise. Kurz bevor ich eingeschult wurde, hatte Charlotte jedoch wieder geheiratet. Sie war mit meinem Stiefvater aber nur kurze Zeit – zwei, vielleicht auch drei Jahre – zusammen. Zu ihm habe ich nie eine richtige Beziehung aufbauen können. Eines Tages ist er vom Zigarettenholen nicht wiedergekommen.

Trotz allem was passiert war – und da können meine Halbgeschwister in H. noch so schlecht über dich reden – hätte ich dich wirklich gerne als meinen richtigen Vater gehabt, als einen, der sich um mich kümmert und mich lieb hat. Das möchte ich dir ganz ausdrücklich versichern. Aber halt … jetzt kommen mir doch wieder Zweifel und ich frage mich, ob du nicht doch eines Tages auch von Charlotte und mir weggegangen wärst und uns im Stich gelassen hättest, genauso wie deine Familie in H.? Ich mag mir das gar nicht vorstellen und im Grunde meines Herzens könnte ich es auch gar nicht glauben. Du wirst Deine Gründe gehabt haben, deine Heimatstadt zu verlassen, um dir woanders eine neue Existenz aufzubauen.

Obwohl du mir im Leben gefehlt hast, bin ich doch auch vaterlos meinen Weg gegangen. Charlotte, meine Mutter und deine neue Lebensgefährtin, war ja eine starke Frau, die mich immer gefördert hat. Aber wäre mein Leben anders verlaufen, wenn du mich begleitet hättest? Sicher, dessen bin ich mir ganz bewusst! Bestimmt hätte ich die Männer, die ich im Laufe meines Lebens kennengelernt habe, an dir gemessen und dich um deine Meinung zu ihnen gefragt. Wahrscheinlich wäre mir dann manche Enttäuschung erspart geblieben.

Leider gibt es kein einziges Foto, das dich mit mir zusammen zeigt. Ich war ja erst vier Monate alt, als du starbst. Wenn ich jetzt wieder die wenigen Fotos betrachte, auf denen du zu sehen bist, stelle ich fest, dass ich dir sehr ähnlich gesehen haben muss: Wir haben das gleiche helle, glatte Haar, die große Nase mit den ausgeprägten Nasolabialfalten und die tiefliegenden Augen mit den Schlupflidern. Die Augenform hast du mir und einigen deiner Kinder in H. vererbt. Meine drei Halbbrüder, die meine Mutter in ihrer ersten Ehe von einem anderen Mann bekommen hat, und sie selbst, haben ganz andere Augen.

Es war ein sehr bewegender Moment, als ich Marje, deiner ältesten Tochter und meiner Halbschwester, das erste Mal gegenüber stand und sie mich mit den gleichen Augen, wie du sie uns vererbt hast, anschaute. Ich erinnere mich daran, dass ich damals sehr bewegt war und geweint habe. Auch Marje war sehr gerührt. Sie war übrigens das einzige deiner Kinder, das manchmal an mich gedacht und sich gefragt hatte, was wohl aus dem kleinen Mädchen geworden war, das der Vater noch kurz vor seinem Tod gezeugt hatte. Die anderen haben ja kaum einen Gedanken an mich verschwendet und mich nicht gerade mit offenen Armen empfangen, als ich nach so vielen Jahren in H. auftauchte. Nun, ich bin dennoch das letzte Kind, das du gezeugt hast, soweit das uns allen bekannt ist. Und meine Halbgeschwister in H. meinten, als wir uns das erste Mal trafen, dass ich das Kind bin, das dir am ähnlichsten sieht. Es ist so traurig, dass wir dies nie überprüfen konnten, da du ja so früh gestorben bist.

Trotz der vielen Unkenrufe seitens meiner Halbgeschwister in H. – die ja kein gutes Haar an dir lassen – weiß ich in meinem Herzen, dass du dich ganz liebevoll um mich gekümmert hättest. Da können die Halbgeschwister noch so oft betonen, dass du ein Hallodri warst und gegenüber deiner Familie verantwortungslos gehandelt hast. Aber vielleicht hätte ich dir ja auch – als dein letztes Kind – Halt gegeben? Vielleicht wärst du ja auch bei Charlotte und mir geblieben, wenn der Tod dich nicht so früh ereilt hätte? Ich lasse mir das schöne Bild, das ich mir von dir gemalt habe, nicht nehmen, auch wenn es im Laufe der Jahre ein paar Kratzer bekommen hat. Du bleibst für mich immer der Vater, der mich lieb hatte, auch wenn du mir dies nur für eine ganz kurze Zeit zeigen konntest.

Und … das ist meine Meinung … jeder Mensch hat nur ein Leben und niemand kann von ihm verlangen, dass er an einem Ort bleiben muss, an dem er unglücklich ist, geschweige denn, dass er aus Pflichtgefühl eine unerträgliche Situation bis zu seinem Lebensende ertragen soll. Und … vielleicht wusstest du ja schon, als du aus H. weggingst, dass deine Zeit bald abgelaufen sein würde? Vielleicht wolltest du ja noch einmal die Liebe suchen, noch einmal richtig glücklich sein … Ich könnte dich verstehen.

Es grüßt dich ganz lieb deine jüngste Tochter Rebekka




Rebekka Weber wurde an einem 29. Februar in der bergischen Klingenstadt geboren. Nach ihrem Sprachstudium in Köln zog sie 1980 nach Düsseldorf, wo sie viele Jahre als Sales Assistant und Sekretärin in der freien Wirtschaft gearbeitet hat. Heute ist sie als Kinderfrau und Tagesmutter tätig und hat einen Sohn.

Die spannendsten und aufregendsten Geschichten schreibt das Leben selbst!

Die Autorin erzählt gerne von eigenen Erlebnissen oder von Beobachtungen, die sie gemacht hat. Oft spinnt sie ihre Geschichten weiter, nach dem Motto „Was wäre, wenn…“

Rebekka Weber hat bisher zwei Romane veröffentlicht, die als Taschenbücher und E-Books erhältlich sind, und zwei Kurzgeschichtensammlungen. Sie ist außerdem mit mehreren Geschichten in verschiedenen Anthologien vertreten.

Aktuelle Romane:

Der Zauber der Eidechse, nach einer wahren Begebenheit

Curries, Kokospalmen & Orchideen, nach einer wahren Begebenheit







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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