Zwischen Elternhaus und Erinnerung

Oliver Fahn für #kkl45 „Mutter, Vater, Eltern“





Zwischen Elternhaus und Erinnerung

Ich stupse meine Nase an die Mauer. Von hinten betrachtet bin ich ein Kletterer, den die Bodenhaftung daran hindert, die Fassade zu erklimmen. Die Erde ist zu meinem Saturn geworden, ich klebe an ihrer Oberfläche. Ich hafte an der Idee, dass wir den Grund meines Elternhauses hätten behalten müssen. Nie habe ich verstanden, dass wir dem Angebot des Bauträgers in unserer finanziellen Not nicht widersprechen konnten.

Heute schneie ich herein wie eine spähende Flocke. In die Straße, zu der Stelle, wo unser Einfamilienhaus mit seinen maroden Holzbrettern als Balkonverkleidung nicht einmal mehr ansatzweise erkennbar ist. Adieu, altes Haus! Drei Worte, deren Inhalt ich nicht häufig genug erneuern kann. Der Tag, an dem unser einstiger Besitz eingestampft wurde, ist auch der Tag, an dem meine Jugend Schiffbruch erlitten hat. Dabei hat der Bauträger, der unser Haus in ein Sechs-Parteien-Haus umwandelte, nur seiner natürlichen Bestimmung gefolgt, alle angebotenen Grundstücksflächen im Umland aufzukaufen und sie regelrecht zu zerlegen. Bleibt es mein Wunschtraum, dass der Immobilienkrösus von dem Gedanken geplagt wird, er hätte unseren Familienbesitz zerstört? Ungeachtet seiner rar gesäten Gewissensbisse hoffe ich, dass einer seiner quälenden Gedanken meiner Familie gilt. Der Ankauf von Arealen aus den Händen bedürftiger Familien ist einer Enteignung gleichzusetzen!

Ich schmecke noch die Johannisbeeren längst entfernter Sträucher, gedenke der mit meinen Sohlen geschabten Mulde unter der Schaukel, die lediglich in meiner Vorstellung fortbesteht. Zurückversetzt in jene vordergründig intakte Epoche, trotze ich mit diesen Reminiszenzen den leisesten Zweifeln an damaliger Geborgenheit.

Augenblicklich stehe ich unter dem Vordach der gläsernen Eingangstür, das alle basalen Umweltereignisse wie Regen abhält. Diese ungeschriebene, jedoch aus jeder Pore sickernde Sterilität stimmt mich skeptisch. Eifersucht brennt. Fremde füllen meinen ehemaligen Lebensraum wie Unkraut, das ich nicht zu beseitigen weiß.

Was geschieht mit mir? In meinem Kopf lichtet sich eine Art menschlicher Winterschlaf. Natürlich! Nachträglich hat das Verhandlungsgeschick meiner Schwester dem Bauträger eine Wohnung aus den Rippen gesägt. Da! Ihr Name an der Klingel. Ich läute, sie öffnet. Grußlos fragt sie: “Wo bist du geblieben? Die goldene Kruste der Schnitzel nach Mamas Rezept wartet auf unsere Messer.”

Ständig stecke ich in den Stunden, in denen der Deal meiner Schwester nicht einmal als ein von ihr vorformulierter Wunsch existierte. Ich lächle sie an und sage: “Bella, du kennst mich.” Und sie: “Ich kenn dich, mein unergründliches Bruderherz.”

Seit wann steht das Foto dort auf der Kommode im Flur? Mutter im Arm des Vaters. Für einige Sekunden lehne ich an den brüchigen Brettern des Balkons, sehe mich schaukelnd Schmutzwasser an die Hauswand spritzen, schüttle den Kopf, bestaune die Konsequenz, mit der sich für eine unvorstellbar kurze Dimension von Ewigkeit Vergangenheit einträgt.





Oliver Fahn wurde am 21. März 1980 im oberbayerischen Pfaffenhofen an der Ilm geboren. Unter anderem wurden seine Texte im Wiener Verlag, bei DUM, Poets of the New World, & Radieschen, Elysion Books, eXperimenta, etcetera, von der Stadt St. Pölten und der Friedrich-Naumann-Stiftung veröffentlicht. Der Kroggl Verlag wählte Fahn zum Autor des Monats März 2024.

Interview für den ##kl-Kanal aus 2022 HIER







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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