Edith Meusburger für #kkl46 „Traum, Realität, Wirklichkeit“
Albtraum
Eilig geht Bettina an den Zelten vorbei, ignoriert die grüßenden Hände, ignoriert den aufgeweichten Boden und den Müll, der überall verstreut ist. Am Morgen sieht es immer schlimm aus. Zweitausend Menschen auf engstem Raum. Das ist zu viel des Guten!
Unbedingt muss sie zu Schamil. Sie will sich entschuldigen wegen gestern, und zwar noch vor die Arbeit im Sani-Zelt losgeht. Sie rennt und rutscht im Schlamm und nickt nach links und rechts.
„Ich bin bekannt wie ein roter Hund“, denkt sie, und schaut hinunter über ihre alte rot geblümte Hose und das ausgewaschene einst pinkfarbene T-Shirt.
„Was habe ich bloß für einen Bauch? Der ist ja mega!“
Und er schwillt immer noch an, der Bauch, mehr und mehr bläht er sich auf. Bettina bleibt stehen inmitten der Zelte, inmitten der Menschen und ist fassungslos über ihren Umfang. Da, jetzt platzt die Bauchdecke und ein blutiges Bündel fällt auf den Boden. Gheath kommt herbei und hebt das Baby auf, hebt es in die Höhe wie eine Trophäe und wirft es Omer zu. Sie werfen Bettinas Baby hin und her, sie spielen Ball mit ihm.
„Ich muss ihnen einen Ball besorgen“, denkt Bettina, „damit sie spielen können, sind alles noch Kinder.“
Das Baby fällt auf den Boden.
Blut rinnt aus Bettinas Bauch, die Fetzen der Hose und der Bauchdecke hängen herunter.
„Wie kann ich das jemals wieder flicken?“, denkt sie voller Sorge, „hier gibt es praktisch kein Nähzeug“.
Sie zieht die Resten der Hose aus und das T-Shirt über den Kopf. Komplett nackt steht sie da.
Von allen Seiten stürmen jetzt Uniformierte mit Messern in den Händen zu Gheaths Zelt.
„Das Baby, mein Baby!“, denkt sie, will schreien, hat aber keine Stimme und die kleinen Männer in ihren grauen Hosen und den Tüchern um die Köpfe, sie stechen alle auf das Baby ein, auf ihr Baby. Sie ist nackt! Wie peinlich! Sie steht da wie angewurzelt, kann sich nicht von der Stelle bewegen. Während die Männer stechen und stechen, emotionslos, keine Miene verziehen.
Bettina will schreien:
„Nein! Neeeeiiiiiiiin!“
Aber es kommt keine Stimme aus ihrer Brust. Sie strengt sich an, fest, fest, nimmt ihre ganze Kraft zusammen und holt tief aus dem Bauch heraus den Ton und schreit:
„Neeeiiiiiiiin!“
Sie öffnet die Augen.
„Das war wohl ein echter Schrei“, denkt sie, „von mir“.
Doch Gott sei Dank: es war ein Traum!
Hier ist alles gut. Die Sonne scheint zum Fenster herein, sie liegt in einem Bett mit blütenweißer Wäsche bezogen. Herlinde zur Linken schläft und Rosmarie murmelt vor sich hin. Die beiden lassen sich von Bettinas Schreien nicht aus der Ruhe bringen, sie sind daran gewöhnt.
„Wie war das nochmal? War ich wieder in Griechenland?“ Bettina greift sich an den Bauch.
„Gott sei Dank! Alles in Ordnung!“ Glatt und sauber fühlt sich das Pyjama an, glatt und sauber die Haut darunter.
„Ich bin doch nicht schwanger!“, denkt sie. „Von wem auch?“
Sie hat sich mit Schamil nicht eingelassen! Nein, das würde sie niemals wagen! Woher also das Kind? Jetzt ist es ein blutender Klumpen. Es liegt einsam auf dem schlammigen Boden. Weit und breit kein Mensch mehr, keine Uniformierten und keine Flüchtlinge. Wo sind die Freiwilligen? Wo ist irgendjemand? Bettina hebt das Bündel auf. Es öffnet seine Augen und sieht sie an mit großen braunen Augen. Das Gesicht ist hübsch und rund, die Miene unbewegt, die Augen auf Bettina gerichtet. Sie drückt es fest an sich und rennt und rennt, hinaus aus dieser Hölle, hinaus, hinaus, nach Hause, nur nach Hause will sie und dieses kleine Kind der Mutter bringen. Seine Arme und Beine hängen lose aus einem Loch heraus.
„Mama muss es waschen und wickeln und zusammennähen!“
Doch weit und breit ist nichts und niemand zu sehen, nur Dreck und Müll und streunende Hunde. „Maaaamaaaa!“
Und wieder schlägt Bettina die Augen auf und ist dankbar für das weiße Bett und das saubere Zimmer.
„Kommt sie heute, deine Mama?“, fragt Herlinde.
„Hoffentlich! Warum fragst du?“
„Weil du geschrien hast, nach Mama gerufen hast du wie eine Verrückte.“
„Ich bin nicht verrückt! Kapierst du das nicht? Ich bin ganz normal und wenn ich wieder draußen bin, dann arbeite ich selbst wieder als Krankenschwester. Ich habe nur diese schrecklichen Träume, sonst fehlt mir nichts, sonst bin ich ein ganz normaler Mensch! Normal! Verstehst du?“
Bettina steht auf, geht auf die Toilette und wäscht sich das Gesicht mit kaltem Wasser ab.
Dann geht sie auf den Flur hinaus, geht auf und ab. Rainer sitzt draußen und wackelt mit dem linken Knie.
„Hallo Rainer! Ich halte es nicht mehr aus in meinem Zimmer! Diese beiden Weiber, die glauben, ich spinne! Dabei bin ich ganz in Ordnung, so normal wie ich es immer war! Ich kann alle Länder der EU aufzählen und ihre Hauptstädte. Ich kann dir alle 207 Knochen des menschlichen Körpers nennen. Ich weiß meine Adresse in Riefensberg und ich weiß, wie ich heiße. Wieso sollte ich also verrückt sein?“
„Schwester, hallo Schwester, warten Sie mal! Haben Sie gehört, wie ich gerufen habe? Ja? Es war bloß, weil ich einen schrecklichen Traum hatte! Es war grauenvoll, mein Baby … Aber es war nur wegen des Traumes! Sonst habe ich nichts. Es geht mir gut!“
„Frau Lehner, gehen Sie bitte in Ihr Zimmer, die Visite ist schon unterwegs! Wir reden nachher darüber, ja?“
Bettina trottet brav ins Zimmer.
„Visite“, denkt sie und zieht sich schon einmal aus. Komplett nackt, und wartet.

Edith Meusburger
geb. Edith Agatha Köhlmeier
am 12. Juli 1954 in Hard
Wohnhaft seit 1989 in Altach
verheiratet mit Walter Meusburger, 4 erwachsene Kinder, 4 Enkelkinder
Beruf: Ruhestand; Lehrerin bis September 2017
Hobbies: lesen, schreiben, wandern, schwimmen, Klavier spielen, nähen
Zusatzausbildungen:
Kurse im Seminarprogramm „Journalismus“ an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten, 2001, 2002
Lehrgang „Kreatives Schreiben“, ils Fernschule, Hamburg, 2018, 2019
Bisher öffentlich
DAS LETZTE VIERTEL, Erzählungen, Mai 2023, Buchschmiede, ISBN Sc 978-3-99152-195-2
Sommer-Sonntag, Anthologie-Beitrag „Sommernächte bei dir“, Literaturpodium, Berlin 2018
Haiku, Beiträge in Anthologie „Schwalben am Teichufer“, Literaturpodium, Berlin 2019
Auftritte bei Poetry Slams
Spielboden Dornbirn, Kantine, 2018, 2019
Kammgarn Kulturwerkstatt Hard, 2021
Vogelfreiraum Rankweil, 2020
Blog: www.dasletzeviertel.wordpress.com (Elsa)
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