Der Matrosenkuss

Maria Seyrlehner für #kkl46 „Traum, Realität, Wirklichkeit“




Der Matrosenkuss

Auf dem schwarz-weiß Foto feiern Matrosen ihre Heimkehr auf einer Straße in New York nach dem Ende des zweiten Weltkrieges.

Im Vordergrund beugt sich ein dunkel gekleideter Heimkehrer, der eine weiße Matrosenkappe trägt, über ein Frau und küsst sie auf den Mund. Beschwingt bringt er sie aus dem Gleichgewicht, drängt ihren Oberkörper nach hinten und umfasst sie ganz. Eine Pose wie in einem Tango. Aber er will nicht verführen und reizen, sondern nehmen, was er glaubt, dass ihm zusteht.

Die Frau im weißen Kleid mit weißen Strümpfen und weißen Schuhen weicht zurück, entkommt aber nicht seinem festen Griff. Sie umarmt ihn nicht ihrerseits. Ihre linke Hand ist abwehrend zur lockeren Faust geballt. Ihr rechter weißer Fuß sucht unsicher tänzelnd nach einem Halt am Boden.

Das Publikum lacht zustimmend, erleichtert und ausgelassen. Der Krieg ist vorbei, da braucht niemand zimperlich zu sein. Die Matrosen haben schlimmeres erlebt und vielleicht auch verübt. Schwamm drüber, heute wird gefeiert.

Die Menschen sind leicht gekleidet, sie tragen keine Mäntel. Es ist Mai, vielleicht Juni, vielleicht Sommer, nicht alle kamen gleichzeitig zurück, nicht alle kamen.

Die Häuserreihen im Hintergrund ertragen stoisch diese Inszenierung. Die Gleise einer Straßenbahn liegen unbenutzt und unbeschädigt. Der Krieg war weit entfernt gewesen.

Nur drei Matrosen sind auf dem Foto. Zwei in schwarzer, einer in weißer Uniform. Sie schlendern und halten großen Abstand zueinander. Wie viele Matrosen hätten in diese Lücken noch hinein gepasst?

Wo sind die Fehlenden geblieben ?

In welcher Erde liegen sie?

In welchem Meer treiben ihre geschwollenen Körper?

Wer wird ihre Geschichte erzählen?

Die Heimkehrer wollen heute ihre unverhoffte Rückkehr genießen. Aber schon morgen werden sie erzählen wollen und ihre Erlebnisse werden die Träume bevölkern. Sie werden ihre Kinder ängstigen. Die Ehre ihres Einsatzes für das Vaterland, für die Freiheit, wird im Alltag verpuffen.

New York bleibt ohne Kriegsschaden, die Häuser stehen unverletzt, aber die heimkehrenden Seelen tragen Wunden.


Foto von Alfred Eisenstaedt:

„V.J.Day am Times Square, N.Y., 15.August 1945 (Victory over Japan)





Maria Seyrlehner

Geburt: Österreich

Studium: Medizin in Wien

Berufsfeld: Gynäkologie, Psychosomatik

Absolventin des „passion-writing“ Lehrgangs (writersstudio.at)

Jetzt im wohlverdienten Ruhe-Unruhestand






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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