Karin Monteiro-Zwahlen für #kkl46 „Traum, Realität, Wirklichkeit“
Wirklichkeiten
Am Rand der Welt, wo Tag und Nacht
sich gegenseitig brechen,
das Bewusstsein fliessend übergeht in Traum
und Wünsche aufgehen wie Samenkörner
verloren auf schwarz aufgebrochener Erde,
verwandelt sich die Brise vom Wasser her
in Atem aus dem Schlund
einer anderen Wirklichkeit.
Einen Moment Wirklichkeit
Nur manchmal haben wir die Kraft
die Wolkendecke zu durchstossen
die uns am Boden hält
blind und unwissend
wir wenden unser Gesicht
der Sonne entgegen
und für einen Moment
sind wir ganz Wärme und Licht.
Nie waren wir so wahr
nie haben wir uns selbst
so erkannt
Und bevor wir wieder
wie erlöschende Sterne zu Boden fallen
umhüllt von der Nebeldecke
die unser ganzes Sein durchdringt
fragen wir uns:
die Sonne, war sie nur Traum und Illusion
oder war sie wahre Wirklichkeit?
Zwischen Himmel und Meer
Berühren den Himmel, der die Welt überspannt,
kratzen an den Wolken oder mit der Schere
ins kitschige Blau schneiden. Die Welt an den Nähten
auftrennen, sorgsam, falls man sie wieder
zunähen wollte, sie auseinanderfalten, glattstreichen,
Landkarte eines unbekannten Territoriums.
Das Meer durchschwimmen, ein Atemzug ist es nur
hin bis zum Horizont, wo Himmel und Meer ineinander überschwappen,
ineinandergreifen, sich vereinigen, zwei Liebende,
die Welt längst vergessen, die Gedanken von der Leine gelöst.
Mit den Walen singen, auf Delfinrücken reiten, Welle spielen,
schäumen, eine sein von hunderttausend Wasserperlen.
Fliegen zwischen Himmel und Meer. Körperlos
wie der Traum, zeitlos wie die Erinnerung.
Mit dem Wind atmen und am Rad der Geschichte drehen,
ein Kind, das staunend ein Kaleidoskop
in Händen hält und mit den immer gleichen Farben
ungezählte bunte Muster wirft.
Himmel und Meer werfen mich erneut zurück an meine
eigenen Strände. Sand in den Augen, Salz auf den Lippen,
verknotetes Haar. Schmerzvolles Zurückfinden
ins körperliche Bewusstsein, verstrickt im Koordinatennetz
von Raum und Zeit. Was ich Kraft hab zu erträumen,
ist Teil meiner Wirklichkeit.
Karin Monteiro-Zwahlen
1962 in Aarau (CH) geboren, aufgewachsen im Kanton Zürich, Studium der Ethnologie und der Spanischen Literatur an der Universität Zürich. Verschiedene Tätigkeiten im Sozialbereich in den Bereichen Obdachlosigkeit, Drogen, Jugend, Frauen und Migration. Seit 1996 wohnhaft in Galicien (Spanien). 2006 Zusatzstudium in Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Cáceres.
Arbeitet freischaffend als Übersetzerin, Lektorin und Sozialanthropologin. Schreibt Lyrik und Prosa in Deutsch und Spanisch. Veröffentlichungen und Auszeichnungen in diversen Anthologien, Literaturzeitschriften und Mitarbeit in einem internationalen Multimedia-Kulturprojekt. Artikel und Rezensionen zu Literatur, sozialen und kulturellen Themen in Fachzeitschriften und Online-Foren. 2022 Veröffentlichung des Kriminalromans „Hass nährt Hass – Das Geheimnis der zerschlagenen Urne“.
Führt je einen Literaturblog in Deutsch: www.monteirozwahlen.wordpress.com und Spanisch: www.mundiscript.wordpress.com.
Ist Mitglied der Lyrik-Gruppe „Desafiando sombras“, die Poesie-Lesungen mit eigenen und fremden Texten organisiert.
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