Der Wunsch, Oneironautin zu sein

Stephan Kaiblinger für #kkl46 „Traum, Realität, Wirklichkeit“




Der Wunsch, Oneironautin zu sein

Novellenauszug

Sarah fährt aus dem Schlaf hoch. Sie zittert, ihr ganzer Körper ist überzogen von eiskaltem Schweiß. Sie sieht sich um, die Fenster sind geöffnet. Vor allem sind sie noch da. Sarah springt auf und läuft zur Türe, die ebenfalls noch da ist, drückt die Türklinke herunter. Die Türe schwingt auf. Sarah steht still auf dem knarzenden Parkettboden und wartet, dass ihr Gehirn die letzten Traumängste mit der Wirklichkeit aus ihrem Kopf spült. Vom raschen Aufspringen wird ihr schwarz vor Augen, sie setzt sich auf den Fußboden, umklammert ihre eigenen Beine, atmet tief ein und aus. Als das Schwarz langsam von ihrem Blickfeld abblättert, merkt sie, wie dringend sie pinkeln muss, steht auf und eilt auf die Toilette. Die kalte Klobrille ist ein weiterer Indikator für die Wirklichkeit, an der sich ihr Bewusstsein festkrallt, um die Angst des Alptraums abzuschütteln.

  In dem Traum saß Sarah auf einem Stuhl in ihrem Wohnzimmer. In Wirklichkeit befindet sich dort natürlich kein Stuhl und Sarah hätte wohl auch wenig Sinn darin gesehen, inmitten ihres Zimmers zu sitzen, aber das waren die Ausgangsumstände ihres Traumes, als ein Mann vor sie trat. Woher er gekommen und wie lange er überhaupt schon im Raum war, konnte Sarah nicht sagen. Und warum er überhaupt hier war, denn vor ihrem Fenster war es Nacht. Er trug unauffälliges Gewand, eine Jeanshose und ein weißes, langärmeliges Shirt, sein Gesicht war eingefallen, sein Haar kurz geschnitten. Aber immer, wenn Sarah versuchte, genauer hinzusehen, ob etwas auf seinem Shirt abgedruckt war oder welche Farbe seine Haare hatten, wurden die Konturen des Mannes unscharf wie bei einem verwackelten Foto.

„Wundern Sie sich nicht“, sagte der Mann, als Sarah probierte, den Mund zu öffnen und etwas zu sagen, was ihr in Träumen allerdings so gut wie nie gelang. Zumindest nicht in denen, an die sie sich erinnern konnte.

„Ich bin ein Geist“, sagte der Mann. „Ich habe hier gewohnt, lange, bevor Sie hier eingezogen sind.“

Für Sarah ergab das in dem Traum absolut Sinn. Trotzdem fragte sie sich, wieso er nun als Geist in ihrer Wohnung stand.

„Seitdem ich gestorben bin, muss ich als Geist in der Wohnung bleiben“, sagte der Mann, für den Sarahs Gedanken offensichtlich kein Geheimnis waren. „Ich würde gerne hinaus, aber es ist mir einfach nicht möglich. Manchmal kann man mich sehen, manchmal nicht.“

In diesem Moment flackerte sein ganzer Körper wie eine altersschwache Glühbirne. Sarah nickte und versuchte, von ihrem Stuhl aufzustehen, aber ihr Körper war schwer wie Blei. Gerne hätte sie dem Mann gesagt, er müsse doch nicht mehr hierbleiben. Er könne doch gehen, wohin er wolle.

„Nein“, sagte der Mann. „Sobald man stirbt, ist man an den Ort gebunden, an dem man gestorben ist. Sehen Sie?“

Und er deutete zu dem Fenster, das langsam immer kleiner und kleiner wurde. Nun konnte Sarah sich doch bewegen. Sie eilte hin, um es zu öffnen oder zumindest irgendwie am Schrumpfen zu hindern, aber als sie die Wand erreichte, war das Fenster vollends verschwunden und ihre Hände berührten nur den kalten Beton. Auch das zweite Fenster ihres Schlafzimmers schrumpfte und verschwand, ehe sie es erreichen konnte. Da flutete schließlich Angst ihren Körper. Sie drehte sich um und wollte den geisterhaften Mann anbrüllen, doch dieser war ebenfalls verschwunden. So rasch sie konnte, mit diesen gummiartigen Schritten, mit denen sie stets durch ihre morastigen Traumlandschaften waten musste, sobald sie es eilig hatte, stolperte Sarah zu ihrer Zimmertüre. Sie drückte die Klinke herunter, die Tür schwang auf, doch auch hinter dem Türrahmen befand sich nur kalte, weiße Wand. Sarah drehte sich um. Das Wohnzimmer war nun vollständig leer. An den Wänden hingen keine Bilder mehr, es gab keine Möbel oder Regale, nicht ein einziges Einrichtungsstück war noch zu sehen. Außer dem einen Stuhl inmitten eines Zimmers ohne Wände. Und einer einzelnen Glühbirne, die von der Decke hing und noch Licht spendete, aber in diesem Moment zu flackern begann. Da wachte sie auf.    

  Sarah betätigt die Klospülung, wäscht ihre Hände und setzt sich auf ihr Bett. Sie schaltet die Nachttischlampe ein, zieht aus ihrem Nachtkästchen ein kleines, schwarzes Notizbuch hervor und schlägt es auf. Ihre Therapeutin hat ihr einmal geraten, Alpträume aufzuschreiben und in die nächsten Sitzungen mitzubringen, damit man ihnen dort den Boden entziehen könne, wie Sarahs Therapeutin sich gewählt auszudrücken pflegte. Nach zweimaligem Mitbringen, bei dem ihre Therapeutin allerdings nichts tat, außer Sarah wieder und wieder zu fragen, ob ihr als Kind das Masturbieren verboten worden sei, was zum Verbeißen und alptraumhaften Hervorbrechen von Gelüsten führen könne, hatte sie damit aufgehört. Nicht jedoch mit dem Notieren. In Ermangelung besserer Möglichkeiten hat Sarah nämlich auch das Internet nach Ratschlägen durchsucht und in einem Forum von und für Altptraumgeplagte den Hinweis gefunden, das Notieren von Alpträumen könne dabei helfen, das Gehirn darauf zu trainieren, Alpträume von der Wirklichkeit zu unterscheiden. In einem Unterforum hat sie sogar gelesen, das regelmäßige Aufschreiben von Träumen generell könne den Schlafenden dabei helfen, luzides Träumen zu erlernen.

Sarah blickt auf ihren dottergelben Radiowecker. Es ist kurz vor drei Uhr. Eigentlich sollte sie schlafen, der nächste Tag wird anstrengend werden, doch sobald sie die Augen schließt, brechen die Bilder des weißen Raumes über sie herein, den sie nicht verlassen kann. Um sich selbst zu beruhigen, steht sie auf, öffnet eines der Fenster ganz und lehnt sich hinaus. Kalte Nachtluft streift ihren Kopf und füllt ihn mit etwas mehr Klarheit. Die Welt ist noch da. Und in ihr die Betrunkenen, die am Ende der Straße laut grölen. Die Autos, die mit Vollgas leere Straßen entlangbrettern. Und die Fenster, hinter denen Sarah vereinzelt Licht entdecken kann. Manchmal das gelbe von Lampen, meistens jedoch das blaugrüne von Fernsehbildschirmen.

Sie schlendert zurück zum Bett, nimmt wieder Stift und Notizbuch in die Hand und verewigt mit zitternder Hand die Facetten des Traumes. Schon beim Niederschreiben verliert er etwas von seinem Schrecken, aber ganz ruhig ist Sarah immer noch nicht.

Also blättert sie das Notizbuch durch und liest frühere Alpträume, immer versehen mit Datum und Uhrzeit. Gelegentlich kommt ihr der Gedanke, sie könnte einen dieser Alpträume durch das Wiederlesen reaktivieren und zu einem wiederholten Auftreten provozieren, dann aber verlässt sie sich auf die bislang gemacht Erfahrung, noch keinen Traum zweimal geträumt zu haben.

Sarah bedauert ein wenig, sich nicht die Zeit zu nehmen, auch die schönen Träume zu notieren, überhaupt alle Träume, wenn dies womöglich der Schlüssel zum luziden Träumen sein könnte. Sarah stellt es sich wundervoll vor, inmitten des Träumens zu begreifen, dass sie träumt und dann, so zumindest haben das Klarträumer – Oneironauten, wie diese sich selbst gerne nennen, ein Wort, das Sarah gefällt– so in diversen Internetforen geschrieben, sogar aktiv in das Traumgeschehen eingreifen zu können. Was für eine Wunderwaffe wäre das.

Einer der schlimmsten Alpträume, der sich tief in Sarahs Erinnerungen gefressen hat, und zwar nicht nachts, aber manchmal untertags fragmentarisch in ihrem Kopf aufwallt, war jener der jagenden Autos gewesen. In diesem Traum lief Sarah nachts die Straße vor ihrem Elternhaus entlang. Hinter allen Fenstern herrschte Finsternis, das einzige Licht spendete eine einzelne Laterne. Neben dieser stand ein grünes Auto, fahrerlos und ohne Licht, dessen Motor auf einmal aufheulte. Im nächsten Augenblick raste das Auto los und hielt direkt auf Sarah zu. Sie konnte sich gerade noch mit einem Sprung zur Seite retten, das Auto verfehlte sie und krachte gegen eine Hausmauer. Sarah meinte, dieser Lärm müsse doch jemanden geweckt haben, aber außer dem Surren des Motors, der trotz des Crashs nicht abgestorben war, konnte sie nichts hören. Bis weitere Motoren aufheulten und Sarah sah, wie unzählige Autos, die in den Einfahrten der Häuser parkten, ohne Fahrer und ohne Licht auf den Asphalt rollten. Und begannen, sie zu jagen. Sie beschleunigten so schnell sie konnten und hielten auf Sarah zu, auch wenn sie dabei miteinander kollidierten und gegenseitig vom Weg abbrachten. Sie fuhren gegen weitere Hauswände und Gartenzäune, gegen Bäume, Straßenschilder und den Laternenpfosten, wodurch sie das einzige Licht auslöschten. Sarah lief durch die Dunkelheit, die Autos hinter ihr, mechanische Bestien, die sie zermalmen wollten. Dann wachte sie auf.

  Warum es genau dieser Traum ist, dessen Bilder so vehement in Sarah weiterleben, begreift sie nicht. Aber das Bild eines Autos, das ohne Scheinwerfen und ohne Fahrer, also blind und mit eigenem Willen, Jagd auf sie macht, ängstigte sie damals mehr, als wenn es wilde Tiere gewesen wären, die Fratzen, aber in diesen vermutlich Augen gehabt hätten, in denen Sarah zu lesen hätte versuchen können. Keine Todesmaschinen. Und Sarah hat sich seitdem mehr als einmal dabei ertappt, wie sie nachts abgestellte Autos mustert, ob diese nicht kurz darauf die Jagd auf sie eröffnen könnten.

Sie blättert zur letzten beschriebenen Seite, ergänzt noch die Uhrzeit, die sie vergessen hat. Nun zittern ihre Finger weniger, auch das Herz rast nicht mehr so, doch das Unwohlsein spukt noch immer durch ihren Körper. Wäre sie nur eine Oneironautin, dann könnte sie Löcher in Wände schlagen, deren Fenster weggeschrumpft sind. Oder einfach davonfliegen, wenn Autos sie durch die Finsternis jagten. Bis dahin bleibt ihr nur das Aufschreiben.




Stephan Kaiblinger, geboren 1990, lebt in Wien. Veröffentlichungen in diversen Literaturzeitschriften (DUM, &radieschen, Litrobona…)






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Hinterlasse einen Kommentar