Mein roter Schal

Claudia Dvoracek-Iby für #kkl46 „Traum, Realität, Wirklichkeit“




Mein roter Schal

In dem kleinen Lokal ist es kaum wärmer als draußen. Ich lasse mich auf einen Fensterplatz sinken, behalte die Winterjacke an, ziehe meinen Schal dichter um den Hals. Tief schiebe ich mein Kinn in die weiche Wolle und rieche trostsuchend daran – natürlich wieder einmal vergeblich. Nichts riecht nach dir, nur leichter Zigarettengeruch steigt in meine Nase. Mein Blick fällt durch die beschlagene Fensterscheibe, folgt einem jungen Paar, das aneinandergeschmiegt am Lokal vorbeispaziert.

Genauso – drängt sich die Erinnerung unaufhaltbar in mir auf – genauso eng umschlungen gingen damals auch wir beide, an diesem nebeligen Novembertag, auf dem Rückweg von einer Vernissage zu unserem Auto. Ein unangenehmer Wind wehte. Ich war zu leicht angezogen, und jammerte ein wenig deswegen. „Warte mal kurz“, hast du gesagt und bist plötzlich in einem Geschäft verschwunden, hast mich einfach draußen stehen lassen, warst aber, noch bevor ich mich darüber wundern oder ärgern konnte, schon wieder bei mir, lächelnd, etwas hinter deinem Rücken versteckt haltend. „So, jetzt bitte Augen zu“, hast du gesagt, „na los – Überraschung!!“ Und dann hast du mir diesen karminroten Schal, den ich seit diesem Tag – seit nun beinahe vier Monaten – ständig bei mir trage, liebevoll um die Schultern gelegt.

„Aufhören“, warne ich mich selbst, „bloß nicht weiterdenken!“ Ich konzentriere mich, und schaue mich im Lokal um. Am Nebentisch liest ein Mann Zeitung, an der Theke schweigen zwei in ihre Biergläser.

„Sie wünschen, bitte?“ Ich erschrecke. Ein Kellner steht vor mir.

„Mir ist so kalt“, höre ich mich klagen, „ich konnte schon wieder nicht schlafen wegen dieser Kälte, trotz Heizung und Daunendecke.“ Warum erzähle ich das?! Schnell lege ich mir, über mich selbst verwundert, eine Hand auf den Mund. Der Kellner meint freundlich: „Dann wäre doch heißer Tee oder Glühwein genau das Richtige, nicht?“

„Ja, ja“, stammle ich verlegen, „Glühwein bitte.“

Wenig später nippe ich an dem heißen Getränk, und Wärme breitet sich wohltuend in meinem Bauch aus. Mir fallen die Augen zu, ich entspanne mich. Doch dann spüre ich, dass ich beobachtet werde, reiße alarmiert meine Augen wieder auf, und schaue direkt in das Gesicht des Mannes am Nebentisch, der mich neugierig anstarrt.

‚Dich kenne ich doch‘, kommt mir in den Sinn, ‚von irgendwoher kenne ich dich.‘ Offensichtlich denke ich laut, denn der Mann antwortet: „Das ist definitiv nicht der Fall. Du verwechselst mich mit jemandem.“

Sein Tonfall ist spöttisch und bewirkt, dass das Wohlgefühl in meinem Bauch verschwindet und sich stattdessen Wut in mir aufbläht, dermaßen rasch und unerwartet, dass mein Atem aussetzt. Ich schnappe nach Luft. Der Mann fixiert mich, und in seinen hellblauen Augen taucht plötzlich das, was ich zuvor noch verdrängen konnte, blitzartig auf.

Ich sehe dich in unserem Auto, sehe deine Hände auf dem Lenkrad, du erzählst etwas und lachst, sehe mich auf dem Nebensitz, sehe, wie ich, ebenfalls lachend, meinen neuen roten Schal abnehme, wie ich ihn übermütig nach hinten auf die Rückbank werfe. Ich sehe, wie ein Ende des Schals kurz, nur für einen Augenblick, über dein Gesicht streicht, sehe, wie du irritiert das Lenkrad verreißt – dann – alles zugleich: Schleudern. Reifenquietschen. Krachen. Stillstand. Orientierungslosigkeit.  Dunkelheit. Stille. Laute Schreie.

Auch jetzt höre ich durchdringende Schreie und registriere nach einer Weile, dass sie von mir stammen. Ich schreie hemmungslos, brülle dem Mann, in dessen Augen sich mein Unglück wie ein Film abgespult hat, meine Verzweiflung, meine Wut ins Gesicht: „Jetzt weiß ich, wer du bist! Deine Augen haben dich verraten. Von dir ging alles aus, du Mörder!  Ja, starr mich nur an, ich weiß, dass DU ihm den Schal verkauft hast!!“

Kurz bin ich über mich selbst schockiert, schäme mich für mein Verhalten, weiß, dass dieser Fremde absolut nichts mit dem Unfall, mit deinem Tod zu tun hat, doch diese Einsicht währt nur für Sekunden, schon gewinnt rasende Wut Oberhand, ich tobe weiter –

 – finde mich desorientiert auf dem Gehsteig vor dem Lokal wieder. Etwas stimmt nicht, etwas stimmt ganz und gar nicht. Ich fühle mich in zwei Hälften geteilt. Der eine Teil von mir beginnt zu laufen, sehr schnell läuft er, irgendwohin, wird dann langsamer, geht durch einen Park. Der andere Teil sieht ihm aus unbestimmter Entfernung ohne Anteilnahme dabei zu. Manchmal scheint er dicht neben seinem Körper, manchmal weit über ihm zu schweben. Es gelingt mir nicht, die beiden Teile wieder zu vereinen. Im Gegenteil, der Abstand zwischen ihnen vergrößert sich. Das losgelöste Ich entfernt sich mehr und mehr, ist schließlich verschwunden, aufgesogen von einer beängstigenden Stille. Das körperliche Ich geht wie ein Automat weiter, immer weiter, befindet sich nun auf einer belebten Fußgängerzone, ist vollkommen isoliert inmitten vieler Menschen. Eine unsichtbare, unüberbrückbar scheinende Kluft hat sich zwischen ihm und den anderen aufgetan.

Irgendwann taucht ein Gedanke auf. Der Gedanke, dass ich Hilfe brauche. Dieser Gedanke lässt meine Hand nach dem nächstbesten Menschen greifen. Ich fasse einen Mann, der vor mir geht, am Arm. Ein heftiger Schmerz durchzuckt mich, als ich ihn berühre. Zugleich erscheint es mir wie ein Wunder: Wie konnte ich es schaffen, den undurchdringbar wirkenden Raum zwischen mir und diesem fernen Menschen zu durchbrechen? Der Mann dreht sich zu mir.

 „Was ist los?“ höre ich ihn fragen. Mein Mund öffnet sich, aber es kommt kein Ton heraus. Der Mann mustert mich misstrauisch und geht weiter.

– Was ist los? Was ist los? – pfeift es schrill in meinem Kopf. Ich tippe auf die Schulter einer Frau, die vor einer Auslage steht. Auch bei dieser Berührung durchfährt mich ein kurzer Schmerz, und wieder staune ich darüber, dass es möglich ist, Kontakt zu einem anderen Menschen herzustellen. Die Frau schaut mich fragend an.

– Hilfe! – formen meine Lippen lautlos. Sie schüttelt den Kopf, eilt davon. Wahllos fasse ich nach Menschen. Es ist ein unwiderstehlicher Drang in mir, das zu tun. Ich muss dieses Wunder, den Raum zwischen mir und eines anderen Menschen auf diese Weise zu durchdringen, wieder und wieder erleben. Den Schmerz, der jeder Berührung folgt, ignoriere ich. Ein Mann beschimpft mich. Ein anderer meint freundlich: „Komm mit zu mir nach Hause, du siehst aus, als bräuchtest du etwas Entspannung.“

Etwas in mir warnt mich, ich laufe weg, steige in eine Straßenbahn. Eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Schoß sitzt mir gegenüber. Das Kind schaut mir direkt in die Augen. Ganz tief. Ich lasse mich in den tröstlichen Blick fallen, strecke die Hand aus, will über das Köpfchen des Kindes streicheln. Doch die Frau zieht ihr Kind eng an sich, steht hastig auf, geht zur Tür, steigt mit ihm aus.

Wieder ein zielloses Gehen. Ich bin müde, friere, sehne mich nach einem warmen Zimmer.  – Die Möglichkeiten, einfach nach Hause zu gehen oder meinen Bruder, eine Freundin, einen Arzt aufzusuchen, kommen mir nicht in den Sinn. Keine Vergangenheit, keinerlei Verbindung zu jemandem oder zu etwas existiert in mir, es gibt einzig diese unwirkliche Gegenwart.

– Ich versuche, eine Tür zu öffnen. Verschlossen. Rüttle an der nächsten, niemand macht auf. Aber da, ein geöffnetes Restaurant, ich trete ein, setze mich auf einen freien Stuhl zu zwei Frauen, lege meinen roten Schal mitten auf den Tisch. Und plötzlich gelingt es mir zu sprechen! Irgendwelche Wörter, Sätze sprudeln aus mir heraus, wollen die quälende Stille zwischen ihnen und mir füllen. Doch die Frauen fühlen sich belästigt, bestehen darauf, dass ich gehe. Resigniert nehme ich meinen Schal, stehe auf, spüre verstärkt den unerträglich leeren Raum zwischen mir und den anderen Menschen, setze mich verzweifelt an den nächsten Tisch zu einem Mann, der gerade isst, lege den Schal vor mich, flehe: „Bitte, bitte sprechen Sie mit mir! Es ist so still. Warum spricht niemand außer mir? Bitte reden Sie -“

„Spinnst du? Was willst du von mir?“ Der Mann ruft empört nach dem Kellner. Hilfesuchend schaue ich mich um, entdecke eine Treppe im hinteren Bereich des Restaurants. Sie zieht mich magisch an, schon führt sie mich auf einen dämmrigen Dachboden. Unzählige Kartons sind hier gestapelt, ich bahne mir einen Weg in die Mitte, kauere mich dort zwischen die Schachteltürme. In mir ist jetzt nur mehr das dringliche Verlangen, zu schlafen. Ich lege den roten Schal auf den Holzboden, meinen Kopf darauf, ziehe die Knie an die Brust, schließe die Augen.

 „Was machen Sie da? Stehen Sie sofort auf!“ Jemand zerrt an meinem Arm. Rasender Schmerz durchströmt mich. Ich springe auf, höre Schachteln hinter mir fallen und lautes Fluchen, als ich die Treppe hinunterhaste, und, an Tische stoßend, aus dem Restaurant stürze. Draußen umfängt mich wieder Kälte. Ich will den Schal dichter um meinen Hals legen, doch meine Hände greifen ins Leere. Wo ist mein Schal? Panik ergreift mich, ich weine, schluchze, schreie.

„Kann ich dir helfen?“, höre ich eine Frauenstimme. „Komm, beruhige dich. Erzähle – was ist denn passiert?“ Ich spüre eine warme Hand, die sich auf meine legt. In diesem Moment weiß ich nicht, dass mein Herumirren nun ein Ende hat, dass diese Fremde mich in eine Klinik bringen wird, weiß nicht, dass sie mich dort regelmäßig besuchen, dass sie mir eine Freundin werden wird. Ich weiß nur, dass ich keinen Schmerz verspüre, obwohl ihre Hand meine Hand berührt.




Claudia Dvoracek-Iby, 1968 in Eisenstadt geboren, lebe mit meiner Familie in Wien. Schreibe Kurzgeschichten, Lyrik, Märchen für Kinder und Erwachsene. Seit 2012 zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Preisträgerin einiger Literaturwettbewerbe.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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