Willkommen in der Wüste der Realität

Mo Haver für #kkl46 „Traum, Realität, Wirklichkeit“



welcome to the desert of reality

„We are like the dreamer. We are dreaming and then live inside the dream. But who is the dreamer?”

Aus: Twin peaks, Amerikanische TV-Serie von David Lynch, 1990

Realität Synonyme: Tatsachen, das Hier und Jetzt, Sachverhalt, Leben, Existenz; der Begriff stammt vom lateinischen ‚realitas‘; von ‚res‘ Sache, Ding, Wese, Quelle: google

Wirklichkeit Eymologie: von ‚wirken‘ arbeiten, tätig sein, Einfluss haben, schöpfe, Quelle: google

Im Jahr 2021 belief sich die Zahl der Konsumenten im Alter zwischen 15 und 64 Jahren zumindest einer illegalen Droge weltweit auf rund 296 Millionen. Quelle: statista.com

Basierend auf epidemiologischen Studien sind in Deutschland jedes Jahr 27,8 % der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Dies entspricht mit 17,8 Milionen Menschen der Einwohnerzahl von Nordrhein-Westphalen. Quelle: statista.com


Eine buddhistische Weisheit besagt, dass wer die Wirklichkeit als solches nicht wahrnehmen kann, verrückt geworden ist. Natürlich geht es im Folgenden nicht darum herauszuarbeiten, ob wir alle verückt geworden sind, sondern vielmehr wie wir unsere Wirklichkeit erfassen und unter den real gegebenen Umständen. Wir können uns distanzieren und sagen Buddhismus hat mit uns nichts zu tun, aber können wir das auch behaupten, wenn es um unsere Wirklichkeit geht? Ist die Wirklichkeit nicht unser Leben? Beginnen wir mit einer Frage, die den Kern in unserer Wahrnehmungsstruktur von Wirklichkeit trifft: Was ist der Unterschied zwischen Wahrheit und Realität? Weiterführenden Gedanken dazu finden sich am Ende des Textes.

Wie finden wir heraus was wirklich ist? Wie ist unsere Wirklichkeit beschaffen? Was benötigen wir dazu? Ein Werkzeug, was uns jederzeit zur Verfügung steht, ist unsere Beobachtungsgabe. Das genaue Beobachten der Phänomene in unserer direkten Umgebung bringt uns zu einer soliden Anlayse und im letzten Schritt zu einer brauchbaren Deutung. Klingt einfach, ist es aber nicht. Der Vorgang wird durch vier Phänomene verkompliziert: 1) Mangelndes Training 2) Das Übergehen der Schritte und somit die Verwechslung der Beobachtung mit der Deutung 3) Unsere Wahrnehmung ist von technokraten Prozessen sowie der wachsenden Digitalisierung unseres Lebens beherrscht 4) Kulturelle Meme und Glaubenssätze.

Eine Anekdote aus Berlin-Neukölln 2017. In einer angesagten und gutgelegenen Pizzeria mit fünf Tischen im Innenraum geben zwei Frauen an der Theke ihre Bestellung auf. Der Italiener hinter der Ladentheke fragt die Beiden, wo sie herkommen, sicher weil sie hörbar mit Akzent sprechen, sie antworten ‚Amsterdam‘. Daraufhin sagt er: Ah, da wo die Frauen in Schaufenstern sitzen. Da die Lokalität das Überhören von Gesprächen schwer macht, nahm ein Gast den Kommentar auf und erwiderte: In Italien, deine Heimat, wird ein nackter, gequälter Mann Anfang Dreisig  an einem Kreuz hängend, angebetet. Was sagen beide Kommentare über unsere Kultur aus?

1 2 3 4 Beobachtungen. Zu 1) Die Wenigsten unter uns, sind darauf trainiert zu beobachten, was um uns herum geschieht. Dazu braucht es Ausdauer, Unvoreingenommenheit und Respekt. Es geht darum einzig und allein wahrzunehmen was ist, mit allen Sinnen. Wir sind hingegen den größten Teil unseres Lebens von Impulsen gesteuert und in Reaktionsmustern gefangen. Das ist beängstigend. Ja. Denn es macht uns verletzlich und steuerbar. 2) Beim Übergehen von Beobachtungen des Raumes, in dem wir uns befinden, ja sogar das Ignorieren von Beobachtungen, führt unweigerlich zu kleineren bis mittelschweren Katastrophen wie Unfällen und Chaos wie wir es weltweit erleben. Nehmen wir ein Beispiel: Kein anderes Lebenwesen ignoriert seinen eigenen Lebensraum und wirkt somit an der Zerstörung deselben mit wie der Mensch. Und damit sind wir bei einer Realität, die nicht nur das menschliche Kollektiv betrifft, denn Fakt ist das der Raum, den wir für uns beanspruchen auch der Lebensraum anderer Lebewesen ist. Wir haben vergessen, einer weiterer Fakt, dass wir ohne den Raum, den wir für unser Leben beanspruchen, überhaupt nicht leben können. Wie groß ist der Respekt, dem wir den Räumen und unserem Leben entgegenbringen? Die Menschheit lebt nicht mehr im Gleichklang mit der Natur und den darin gültigen Gesetzmäßigkeiten. 3) Die schwerwiegenden Auswirkungen technokrater Prozesse und wachsender Digitalisierung: Nicht nur sind wir bereits aufgrund Plato’s Objektivierungstheorie,  und auch Descartes Theorien, die sich um den Ausdruck Je pense, donc je suis – Ich denke, also bin sammeln, von unserem eigenem Wesen als Mensch in einer lebendigen Umwelt und somit von unserem Lebensraum entfremdet, zemeniert wurde die Entfremdung des Menschen von sich selbst zur Zeit der Industrialisierung im  Zusammenhang mit standardisierten Arbeistprozessen und heute im Zusammenhang mit der fortschreitenden Digitalisierung unseres Berufs- und Alltagsleben. So der Stand der Dinge. So die Realität. So die Brille mit der wir die Wirklichkeit wahrnehmen zu suchen. 4) Anfang des 21. Jahrhunderts nehmen wir unsere Realität, das was ist, über Bildschirme wahr. Die dreidimensionale Wirklichket erfassen wir mittels zweidimensionaler Werkzeuge. Der Großteil der Entscheidungen und Meinungen basiert auf „wir glauben, was wir hören, es muss nur oft genug wiederholt werden“.

In nur einer Generation hat sich unsere Wahrnehmung und unser Sozialverhalten komplett umgeformt. Begegnungen finden im digitalen Raum statt. Wir sind digital vernetzt.. Ist eine virtuelle Realität die Wirklichkeit? Oder dauert sie nur solange wie der Stromanschluss die Verbindung gewährleistet. Das Informationszeitalter bedeutet im Grunde nichts anders als Nicht-Denken. Wir haben Zeit gewonnen, und verlieren unser Leben.

Selbstvergessenheit ist Teil unserer Kultur wie Verleugnung. Wir leben in einer Kultur, die sich selbst verleugnet. Wir kennen unsere Wurzeln nicht. Die Wirklichkeit ist tabu. Wenn wir nicht was ist, können wir nichts analysieren. Solange uns nichts gehört, auch nicht unsere Gedanken, die kohärente Gedankengänge bezeugen, können wir weder das politische System verändern, oder das ökonomische System noch das soziale System. Solange wir unsere Existenz mieten und die Verantwortung für unser Leben anderen geben, ändern wir nichts. Die Beschäftigung mit dem was hinter uns liegt, interessiert nur wenige. Konsum, Ablenkung und Aktivitäten wie Verreisen, Sport, Fernsehen, Süchte – ist das nicht die Flucht vor einer Wirklichkeit, die uns gehören sollte? Selbstwirksamkeit findet erst statt, wenn wir die realen Umstände unserer Gegenwart benennen. Verständnis für historische Zusammenhänge zum Beispiel ergibt sich aber nur in der Rückwärtsschau. Sinn stellt sich retrospektiv ein. Doch wir sind, nichts für ungut, mit unserem Alltagsgeschehen und dem Über-Leben in einer Realität beschäftigt, die uns wie Fremde behandelt. Heute vielleicht mehr denn je. Haben wir wirklich durch die wachsende  Digitalisierung gewonnen? Wir haben den Bezug zu unserer eigenen Menschlichkeit verloren. Ja, das klingt hart, aber es ist was es ist. Wir haben vergessen was die Wirklichkeit ist. Wir leben in einem Zustand der Benommenheit als gebe es kein Morgen. Wir Leute haben irgendwann aufgehört Generationen vorauszudenken. Was geben wir unseren Nachkommen mit? Wir leben in einem Zustand des Hier und Jetzt als wären wir erleuchtet im Bewusstsein von Kindern. Nur, da kommt etwas auf uns zu, und dem können wir nicht als Kinder begegnen.

Es gibt verschiedene Denkansätze, die Realität zu erfassen, denn es gibt so viele Weisen Realität wahrzunehmen wie es Menschen gibt. Das Einzige worauf wir uns einigen können, ist, dass wir die Wirklichkeit mit ihren Phänomenen alle unterschiedlich wahrnehmen. Das ist das einzige worauf wir uns einigen müssen und auch darauf, dass es niemand für jemand anderes besser wissen kann. Genau aus diesem Grund. Nehmen wir die Sprache. Sprache bildet die Realität ab, ist aber nicht die Realität. Genauso verhält es sich mit der Wirklichkeit zur Realität. Menschen haben sich im Laufe der Entwicklungsgeschichte geeinigt wie dieses oder jenes Objekt in unserer außersprachlichen Welt diesen oder jenen Namen trägt. Du trägst einen Namen und ich habe einen Namen, aber sind wir die Namen? Nein, wir sind nicht Namen, wir sind lebendige Wesen mit einer spirituellen Verantwortung gegenüber dem Leben und unserem Lebensraum.

Zur Eingangsfrage: Für die Mehrheit der Leute ist Realität und Wahrheit identisch. Eine Minderheit sagt, dass jeder seine eigene Wahrheit hat und Realität wie die Naturgesetze für jeden gelten. Also cirka 90 Prozent der Leute halten ihre Wahrheit für real und 10 Prozent der Leute unterscheiden das, was sie für wahr halten von dem was wirklich ist.




Mo Haver, M.A. in Kunstgeschichte/ Romanistik. Seit 2013 Veröffentlichungen in Anthologien, Literaturzeitschriften, Verlagen sowie auf diversen Onlineplattformen.

Havers Texte handeln von Begegnungen und Entfremdungen. Schreiben versteht sich als künstlerische Praxis gegen das Vergessen. Wöchentliche Veröffenlichungen auf: instantpoetry.blogspot.com







Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Hinterlasse einen Kommentar