Martin A. Völker für #kkl46 „Traum, Realität, Wirklichkeit“
Ins Leben drängen die Träume
Lebst du deine Träume, oder verträumst du dein Leben? Ich kenne Menschen, die viele Träume haben. Aber streng genommen sind es bloß Wünsche, die dummerweise auch nur Wünsche bleiben. Was unterscheidet einen Traum von einem Wunsch? Wenn wir uns etwas wünschen, hoffen wir darauf, dieses Etwas zu erhalten, ohne dafür eine eigene Leistung zu erbringen. Wir wünschen uns den großen Lottogewinn, der natürlich ausbleibt, weil wir gar nicht Lotto spielen. Wir wünschen uns etwas zum Geburtstag und setzen darauf, dass irgendwer diesen – zumeist sehr konkreten und materiellen – Wunsch realisiert. Andere Menschen werden auf diese Weise zu Erfüllungsgehilfen degradiert. Könntest du es aushalten, einfach darauf zu vertrauen, dass jemand, der dich beschenken will, weiß, was er tut, weil er dich kennt und hochschätzt? Es ist eine vollkommen andere Sache, sich etwas zu wünschen oder eben die Wünsche anderer zu erkennen, bevor die anderen sie sich bewusst gemacht haben. Wer möchte nicht so erkannt werden? Es ist dieses Erkanntwerden, das Liebe ist, das wir umgehen, wenn wir einen Wunsch aussprechen, dessen Einlösung uns befriedigt und dennoch unglücklich zurücklässt. Lasse einen Weihnachtsabend deiner Jugend Revue passieren: Du hast alles bekommen, was du dir gewünscht hast, das schicke schwarze Mountainbike mit den hellgrünen Streifen, den unverschämt hochpreisigen Computer, und trotzdem stieg Enttäuschung in dir auf, dein Hals schnürte sich zusammen, dein Gesicht schien zu brennen, während die Erfüllungsgehilfen deinen Freudenausbruch erwarteten. Alles hast du bekommen, aber niemand hat dich erkannt, weil du dich selbst nicht erkannt hast. Denn wofür stand der eine oder der andere Wunsch? Hast du gehofft, mit dem Mountainbike wie ein Magnet alle Blicke anzuziehen, mit dem neuen Computer der coole Hacker zu sein, der sich wie ein Pirat mit unverschämter Lässigkeit über alle Grenzen und Gesetze hinwegsetzt? Du hast dir etwas gewünscht, aber der Traum, der in diesen Wünschen steckt, ist dir unklar geblieben. Der Kloß, der nach erfüllten Wünschen in deinem Hals steckt, drückt als Gefühl den unerkannten Traum aus, die im Nebel der Unbewusstheit schlummernde Sehnsucht. Wenn du dich nicht in diesen Nebel hineinbegibst, folgt Wunsch auf Wunsch. Das unablässige und zwanghafte Wünschen, welches immer einen Realisierenden finden mag, zermürbt dich, weil das, was die Wünsche dir zu sagen haben, unverständlich bleibt. Puste den Schaum der Wünsche vom Urgrund deiner Seele, in dem die Träume wohnen. Unverwechselbare Träume sind es, die einzig und allein mit dir zu tun haben. Vielleicht entsprechen manche Wünsche diesen Träumen, was allerdings purer Zufall wäre. Zudem zwingen Wünsche etwas in eine dinghafte Form, was als Vorstellung, als Gefühl oder als geisterhafte Kraft erkannt sein will. Jegliches Ding bleibt hinter seiner Idee zurück, und daraus entstehen Übel. Setze mutig einen Fuß auf die Hinterbühne deiner Wünsche, und suche nach deinen Träumen. Achte dafür auf deine Träume. Du träumst nicht, weil dir dein anstrengendes Tagwerk einen traumlosen Schlaf beschert? Du findest keinen Schlaf, weil offene Wünsche, fehlende Gebete und das blaue Displaylicht ihn dir rauben? Den Wunsch, eine traumreiche Nacht zu verbringen, musst du dir eigenständig erfüllen. Insgeheim weißt du, wie das geht. Notiere deine Träume, führe ein Traumarbeitsbuch, damit du verstehst und veränderst. Halte das Geträumte für wirklich, das ist es nämlich, deine innere Wirklichkeit. Du träumst ungern, weil deine Träume wild und bisweilen schmerzhaft sind? Du bist das, was du träumst, du wirst das sein, was aus deinen Träumen als Aufgabe, Weg und Ziel hervorgeht. Bilder und Symbole führen zu Metaphern, aus denen Kraftsprüche werden, die dir helfen, den Visionen mit Taten entgegenzugehen. Ins Leben sollen die Träume drängen, sich befruchtend dort verwurzeln und verästeln, wohingegen es meistens leider so ist, dass das äußere Leben den inneren Menschen kolonisiert und die Träume tötet. Dekolonisiere dich! Wenn du dir im Leben die Augen reibst und ausrufst: „Ich glaube, ich träume!“, dann bist du angekommen in dir und der Welt, und kein Blatt schiebt sich dazwischen.

Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Dozent, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.
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