Phantasmagorie der Zweifel

Dario Schrittweise für #kkl46 „Traum, Realität, Wirklichkeit“





Phantasmagorie der Zweifel

Die alte Uhr schlug Mitternacht. Geräuschvoll schwang das schwere Pendel hin und her. Ich saß in meinem Sessel, die Schlaflosigkeit quälte mich. In der Hoffnung, dass ich müde werden könnte, las ich ein Buch. Der Roman war spannend, eine Erzählung über Gestaltwandler im viktorianischen England. Doch ich konnte mich nicht konzentrieren und las nur wenige Seiten. Nach zehn Minuten legte ich das Buch auf den Beistelltisch.

Meinen Blick ließ ich durch den Raum schweifen. An der Wand hing das Gemälde, das ich letzten Sonntag auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Es war das Porträt eines Mannes in seinen Fünfzigern. Er hatte einen Vollbart und wellige braune Haare. Hinter ihm war eine nächtliche Waldszenerie gestaltet. Eine Eiche mit langen, knorrigen Armen, vor dem Mond, der eine Bergkette erhellte. Der Porträtierte blickte grimmig drein. Ein wenig ließ mich der Blick des Mannes erschaudern.

Das Feuer im Kamin war beinahe erloschen. Ich legte zwei Holzscheite nach und setzte mich wieder hin. Das Knistern wurde lauter. Die Flammen warfen Schatten an die Wand.

Der Schlaf wollte nicht kommen. Ich löschte das Feuer im Kamin. Im Eingangsbereich zog ich meine Jacke sowie Schuhe an und verließ das Haus.

Die Kälte der Nacht ließ mich frösteln. Sie griff mit ihren durchdringenden Fingern nach Bergen, Wäldern, Flüssen und Städten und drängte die Menschen in ihre Häuser zurück. Nur der Rauch, der aus den Schornsteinen stieg, und die beleuchteten Fenster deuteten auf das Treiben der Bewohner hin.

Ich schlenderte am Dorfweiher entlang. Leise plätscherten die Enten im Schilf. Warum waren sie noch wach? Das Mondlicht spiegelte sich auf der Oberfläche des Weihers. Nach wenigen Minuten bog ich in einen Nebenweg ab und ließ den Teich hinter mir.

Beißende Eiseskälte umhüllte meine Glieder und mit jedem Schritt wurde ich endlich müder. Die kahlen Bäume streckten ihre scharfkantigen Finger über den Weg. Ein Steinkauz störte die nächtliche Stille.

Beinahe ohne es zu merken, verließ ich die Siedlung. Je weiter ich mich entfernte, desto stärker umwehte mich der Wind.

Plötzlich umgaben mich wispernde Stimmen. Die einzelnen Worte konnte ich zunächst nicht verstehen. Oder war es vielleicht nur das Pfeifen des Windes zwischen den Bäumen und Felsritzen? Das Rumoren wurde lauter.

Ein irrationales Unwohlsein ergriff mich, ich fühlte mich beobachtet. Als ich eine Kreuzung erreichte, schob sich eine dunkle Wolke vor den Mond. Ich erkannte den Weg nicht mehr wieder. Sollte ich weitergehen?

Das Wispern wurde lauter. In der Dunkelheit erahnte ich menschenähnliche Silhouetten. Glühte da etwa ein Augenpaar im Gestrüpp? Doch als ich zur Stelle kam, wo ich die Umrisse erwartet hatte, konnte ich niemanden finden.

Ich kehrte um und beschleunigte meine Schritte. Warum bewegten sich Schatten im Gebüsch? Wem gehörten sie?

„Du kannst das nicht!“ Die Stimmen ertönten wieder. Sie quälten mich. „Vergiss es!“ Äste versperrten mir den Weg. „Du wirst wie immer versagen!“

Eine schwermütige Gefühlslage befiel mich. Ich hastete in die entgegengesetzte Richtung. Meine Gedanken kreisten nur um das unheilvolle Flüstern. Ich kämpfte dagegen an, versuchte, die negativen Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben.

„Deine Bemühungen sind wie so oft nicht ausreichend!“, ertönte es düster aus dem Wald.

Sollte ich mich von den Unbekannten beeinflussen lassen? Das wollte ich nicht hinnehmen. Mir wurde klar, die schemenhaften Umrisse waren meine Selbstzweifel und Ängste. Sie durften nicht die Oberhand behalten. „Lasst mich in Ruhe, ich werde euch nicht mehr zuhören“, rief ich zaghaft.

„Täusche dich nicht!“ Das Stimmengewirr wurde lauter. „Du bist selber schuld, weil du uns gerufen hast.“ Meine Unsicherheit nährte die inneren Dämonen. Jetzt durfte ich nicht mehr stehen bleiben, nicht mehr zaudern. Entschlossen schritt ich weiter.

„Die Richtung ist falsch, du hast mal wieder die Orientierung verloren!“

Ich drehte mich nicht mehr um.

„Bleib stehen!“

Ruhig schloss ich die Augen und atmete tief durch. „Genug!“, rief ich. „Ihr habt keine Macht mehr über mich!“

Stille. Die Stimmen verstummten, mit ihnen verschwanden auch die dunklen Gedanken.

Ich lauschte. Keine Reaktion. Wenige Augenblicke später setzte ich meinen Weg fort. Auf der anderen Seite des Hügels schimmerte der bekannte Dorfteich im Mondschein. Die Lichter der Siedlung blinzelten zu mir herüber. Die Fenster waren geschmückt in Farbe. Die vertraute Silhouette des Dorfes beruhigte mich. Die letzten düsteren Bilder verschwanden.

Wieder zu Hause angekommen, hielt ich meine Gedanken in einem Notizblock fest.

Ich sah auf die alte Uhr im Wohnzimmer: Mitternacht. Immer noch? War die Uhr kaputt? Nein, der Minutenzeiger bewegte sich. Da hatte ich mich wohl vertan.

Der Mann auf dem Gemälde schien nicht mehr so grimmig zu blicken. Seine Mundwinkel hatten sich wohl sogar leicht nach oben verschoben.

War es wieder eine Sinnestäuschung oder Einbildung? Ich hatte mir vermutlich das Gemälde nicht richtig angesehen.

Müdigkeit überfiel mich und ich musste gähnen. Nachdem ich den letzten Satz beendet hatte, schloss ich mein Notizbuch und legte es auf den Roman. Endlich war ich bereit, schlafen zu gehen. Draußen war es still, nur ein Steinkauz sang sein eigentümliches Lied.





Dario Schrittweise, Jahrgang 1980, lebt und arbeitet in Nürnberg, im beschaulichen Franken. Am 22.03.24 ist sein Erzählband „Kaleidoskopische Welten“ erschienen. Die Prosasammlung ist sein Erstlingswerk.

Wenn er nicht schreibt, beschäftigt sich Dario Schrittweise gerne mit Fotografie, geht ins Kino, Theater, Museum etc. Er begeistert sich auch für (Fern-)Wanderungen und Reisen. Er liebt Geschichten vieler Genres und allerlei Gestalt.

In seinem Blog „dario-schrittweise.org“ veröffentlicht er seine Erzählungen, Kurzgeschichten sowie Kunst- und Reisebeiträge etc.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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