Hand und Fuß

Ingo Primel für #kkl46 „Traum, Realität, Wirklichkeit“




Hand und Fuß

Augen zu. Du sitzt am Strand. Du hörst das Rauschen des Meeres und spürst die frische, salzige Luft in deiner Lunge. Es geht dir gut.

Augen auf. Du bist noch immer im Lüftungsschacht. Hier ist es eng. Und staubig. Du versuchst weiter zu kriechen, doch der Krampf in deiner linken Wade schmerzt immer mehr.

Augen zu. Sanft umspülen die Meereswellen deine Füße. Dein Cocktail schimmert golden im Licht der über dem Meer versinkenden Sonne. Ach wie schön kann Urlaub sein.

Augen auf. Vor dir ist Licht. Vielleicht eine Luke. Eine Öffnung in einen größeren Raum. Unter anhaltenden Schmerzen kriechst du weiter wie ein verwundetes Tier. Immer näher  kommst du dem Licht.

Augen zu. Noch immer betrachtest du die Sonne und wie sie ruhig im Meer versinkt. Ihre Strahlen tauchen den Horizont und die ihn widerspiegelnde Wasserfläche in ein rosarotes Licht. Ist das Kitsch? Oder bloß die Drehung der Erde um sich selbst, welche jeden Abend für solch ein Farbenspiel sorgt? Reine Physik? Was kümmert´s dich! Du bist im Urlaub. Dein Körper und dein Geist sind genau so entspannt wie alles um dich herum.

Augen auf. Endlich hast du es geschafft. Durch das Gitter der Luke siehst du den unter dir liegenden Raum. Doch es ist eigentlich kein Raum. Du siehst hohe Wände aus Metall, kalt silbern glänzend, so wie der Schacht in dem du bäuchlings kauerst. Aber da ist noch mehr. Der Raum, dieser Ort mit Wänden ringsherum aus leblosen Stahl, er ist nicht leer.

Augen zu. Der Cocktail in deiner Hand ist ausgetrunken, nur noch die halbgeschmolzenen Eiswürfel glitzern in den letzten Strahlen der Sonne. Die angenehm warmen Meereswellen umspülen noch immer deine Füße, während du darüber nachdenkst baden zu gehen.

Augen auf. Schon eine Weile siehst du in den Raum unter dir und kannst den Blick doch nicht abwenden. Wie ein Kaninchen von der Schlange hypnotisiert den Tod anstarrt, so starrst du nach unten. Arme. Beine. Arme und Beine. Ausgerissen. Abgeschraubt. Verdreht. Verheddert. Fröhlich winkend. Und böse drohend. Ein Durcheinander aus Plastikteilen. Dein Weg hinaus.

Augen zu. Ist es schon zu spät für dich um Baden zu gehen? Oder bist du zu betrunken? Das golden schimmernde Meer. Die sanft flutenden Wellen. Die untergehende Sonne über allem. Alles lockt. Urlaub frohlockt. Du wagst es und gehst. Du planschst. Du schwimmst.

Augen auf. Jetzt reicht es dir. Die Luke ist auf. Mit den Beinen voran hängst du an ihr. Dein Bein, dein Fuß. Ein anderes Bein, ein anderer Fuß. Sie berühren sich. Sie spüren sich. Ein Gänsehautgefühl. Von deinem Fuß, der seinen Fuß berührt bis zu deinem Kopf. Du wagst es und springst. Du fällst. Du landest hart.

Augen zu. Es war gut, ins Wasser zu gehen. Das Meer. Die Wellen. Sie umspielen deine Seele und deinen Körper. Entspannung pur. Dein Alltag ist weit, weit weg. Alles ist weit, weit weg. Nur du, die Wellen und das Meer.

Augen auf. Blaue Flecke. Verstauchte Gelenke. Überdehnte Sehnen. Hartes Plastik um dich herum. Arme und Beine. Mannequinteile. Die Landung war hart für dich. War es das wert? Ein weiterer Raum. Doch kein wirklich weiter Raum. Eingequetscht und leicht lädiert, fragst du dich was nun wird. Was nun kommt. Wohin führt dich dein Weg?

Augen zu. Noch immer genießt du das Meer. Nur du allein inmitten der vom Sonnenlicht gold gefärbten Wellen. Das wohlig warme Wasser bedeckt deinen Körper. Deine Haut, wird so weich wie deine Gedanken. Was für ein Leben!

Augen auf. Nun bist du also hier. Wo immer das hier auch sein mag. Du möchtest deine Arme heben, doch es geht nicht. Auch deine Beine sind außer Stande sich frei zu bewegen. Du steckst fest. 

Augen zu. Bist du noch ein Gast im Meer, oder längst ein Teil des Meeres? Du weißt es nicht mehr. Jegliche Erinnerung an das Gefühl von festem Boden unter den Füßen ist weit, weit weg. Vielleicht ist auch der Palmenstrand da hinten nichts weiter als Einbildung. Ein Traumbild geschaffen von Wellen und Meer.

Augen auf. Du musst dich befreien! Die Arme und Beine um dich herum drücken dich, quetschen dich und pressen dich. Je mehr du dich bewegst, umso enger wird es für dich. Schon hast du das Gefühl, dass deiner Lunge bald der Raum zum Atmen fehlen wird. Du atmest tief ein, doch Panik ergreift dich.

Augen zu. Du fühlst dich wie ein Fisch im Wasser, glaubst von allem befreit zu sein. Dein Leben findet nur hier statt, ja kann nur hier statt finden. Deine Arme und Beine sind Flossen und du bist derjenige, der die Ehre hat sie zu tragen.

Augen auf. Du weißt jetzt was du tun musst. Dir ist klar geworden, dass es nur einen Weg hinaus gibt. Deine Gedanken kreisen um den Boden, der unter dir liegen muss. Mit einem heftigen Ruck deiner Arme, Beine und deines ganzen Körpers befreist du dich, bevor du abtauchst.

Augen zu. Du wirst langsam müde. Das warme Wasser, die sanfte Strömung, die andauernden Schwimmbewegungen. All das zehrt an dir. Deine Kräfte lassen nach. Du musst das Wasser wieder verlassen. Doch der Urlaub endet noch nicht.

Augen auf. Der Boden. Irgendwo muss es einen Boden geben. Nur dieser eine Gedanke geht dir durch den Kopf, während du versuchst dich mit schwimmenden Bewegungen deiner fleischigen Gliedmaßen durch jene aus Plastik zu kämpfen.

Augen zu. Die Entspannung ist weg. Deine Arme und Beine werden müde vom Schwimmen und dein Körper wird schwer. Auch der anfänglich kleine Schmerz in deiner linken Wade ist stärker denn je. Ein Krampf der deinen ganzen Körper kontrolliert.

Augen auf. Du tauchst immer tiefer und tiefer zwischen all den verkeilten und verdrehten Plastikgliedmaßen hinab. Die Luft hier unten wird merklich dünner, die Last der Gliedmaßen stetig größer und das Atmen immer schwerer. Fast fühlt es sich so an, als ob dich die Arme und Beine am Hinauskommen hindern wollen. 

Augen zu. Du musst wieder ans Ufer, doch das Meer hält dich gefangen. Die Strömung ist mit der Zeit stärker geworden und du hast kaum noch Kraft, um gegen sie anzuschwimmen. Deine Gedanken sind nur noch beim Strand mit Palmen und Sand. Doch der Strand ist weit, weit weg.

Augen auf. Sie sind echt! Die Arme und Beine bewegen sich ohne dein Zutun. Mit ihren festen Gliedmaßen verhaken sie sich ineinander, werden dichter und dichter. Stoßen, drücken, würgen und quetschen gegen alle Widerstände. Und du bist mittendrin.

Augen zu. Du musst kämpfen! Doch mit jedem Atemzug, mit jeder Bewegung deiner Arme und Beine verliest du an Kraft. Dein Geist ist gewillt, doch dein Körper ist schwach.   

Augen auf. Augen zu. Augen auf. Augen zu.        




Ingo Primel (Pseudonym)

Geboren kurz bevor eine Mauer zusammengefallen ist und  aufgewachsen inmitten einer Stadt die niemals schläft und sich immer wieder neu erfindet: New York…ähh Berlin. Durch Interesse an Tieren und Natur an der Uni Greifswald zum Biologen gereift, dort aber auch die Leidenschaft für Texte mit satirischen oder phantastischen Elementen erweitert und erste Erfahrungen bei Lesungen gesammelt. In Schubladen lässt er sich ebenso so wenig stecken wie die Genres seiner Texte. Für Interessierte ist er als „wortgeraschel“ bei Instagram zu finden.  






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Hinterlasse einen Kommentar