Die Innere Burg – Teresa von Ávila

Udo Brückmann #kkl46 „Traum, Realität, Wirklichkeit“




Die Innere Burg – Teresa von Ávila

Die Nacht des kräftezehrenden Fußmarsches von Toledo nach Ávila empfing die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Johannes war von neuem Mut erfüllt, als er die Türme der Stadtmauer mit ihren Zinnen aus der Ferne wahrnahm. Mittendrin und unmittelbar in der Mauer integriert befand sich die Catedral del Salvador, die erste gotische Kathedrale Spaniens. Zwar trug sie noch die Züge einer Festung, doch die vielen Fenster und Rosetten durchfluteten das Kirchenschiff mit dem Licht Gottes, das die Dunkelheit fortwährend in sich aufnahm.

Nur noch wenige Schritte in Sandalen trennten Johannes von dem Convent vom Heiligen Josef, das außerhalb der Stadtmauer lag. Das schlichte Klostergebäude mit seinen drei Rundbögen, in dessen Mitte sich die Haupttür befand, schien den Mönch wie einen Heimkehrenden zu begrüßen. Immer noch sah er sich nach allen Seiten um und schlich aufgeregt zu dem hölzernen Portal, um durch mehrmaliges Klopfen Einlass zu erbeten. Es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Tür einen Spalt weit und eine Nonne lugte hindurch: »Gott zum Gruß! Was ist Euer Begehr?«

»Gott zum Gruß«, erwiderte Johannes, »die ehrwürdige Priorin bittet darum, mich zu empfangen!«

»Und wie ist Euer Name, Bruder?«

»Johannes vom Kreuz, verehrte Schwester.«

»Wartet bitte einen Moment.«

Und so schloss sich das Portal wieder. Es waren nur wenige Minuten, aber für Johannes war es eine Ewigkeit. Der Schrecken der Leere, das „Horror Vacui“, kam ihm in den Sinn; die monatelange Kerkerhaft in monatelanger Stille. Johannes jedoch wurde durch das Martyrium nicht gebrochen, sondern befreit. Für ihn war es eine Zeit der geistigen Reinigung und der Gegenwart Gottes.

Nun strich er sich seinen Bart glatt und fuhr sich mit der anderen Hand über das schüttere Haar, als die Tür sich wieder öffnete.

Ein Schwall fröhlichen Lachens kam ihm entgegen und sein Herz tanzte: Eine schon etwas ältere Ordensschwester in vollem Ornat nahm Johannes in die Arme, ohne auf irgendwelche Konventionen zu achten. »Du lebst! Mein Gott, du lebst! Sei willkommen!«

Teresa konnte mit ihren Liebkosungen gar nicht wieder aufhören und zerrte ihren Freund hinein in die schützenden Klostermauern von Sankt Josef. »Hier bist du sicher! Willkommen, lieber Freund!«

Bald wurde der Gast von den Nonnen mit allerlei Speisen und Getränken versorgt und musste anschließend in den Privatgemächern der Priorin jedes Detail von seiner Gefangenschaft und Flucht berichten. Teresa sog die Worte geradezu in sich auf und betrachtete ihren Bruder im Geiste mit Wohlwollen und Dankbarkeit. Ein guter Tropfen Wein durfte dabei nicht fehlen.

Johannes zeigte der Priorin einige seiner Texte, die er mit sich führte und im Kerker geschrieben hatte. Teresa gab sich tief beeindruckt. Besonders „Die dunkle Nacht der Seele“ hatte es ihr angetan.

»Es ist wundervoll und einzigartig – und wird die Generationen überdauern«, entgegnete sie.

Der Mönch winkte ab. Zu viel Lob bereitete ihm Unbehagen. »Doch nun erzähl‘ mir von dir und deinen Schriften: Die Welt wartet darauf!«

»Welche Welt meinst du?« Teresa schmunzelte und warf den Kopf in den Nacken. »Die der Inquisition und des päpstlichen Nuntius Filippo Sega? Noch immer ist er der Ansicht, ich sei ‚ein herumvagabundierendes Weibsbild, das unter dem Vorwand von Frömmigkeit falsche Lehren erfindet‘. Ich denke, der Heilige Stuhl wird noch lange an dieser dummen Beurteilung festhalten. Sie fürchten die Frauen im Allgemeinen, weil den Frauen durch das innere Hören der Zugang zum Göttlichen Wesen erleichtert ist. Das Weibliche ist ein großer Feind der obersten Kirchenmänner, deshalb auch die vielen Scheiterhaufen.«

»Aber durch die Göttliche Vorsehung bist du lebendiger denn je!«, gab Johannes zu verstehen.

»Dennoch dürfen wir nicht vergessen«, sagte Teresa, »dass Papst Gregor XIII. auch durch unseren König unterstützt und gefördert wird. Ich traue beiden nicht in ihrer Allianz aus geistlicher und weltlicher Macht. Ihr Handeln im Namen des Allmächtigen dient vor allem politischen Zwecken und Zielen. Und sie trauen sich gegenseitig nicht.«

»Aber wie können wir solch einem unseligen Treiben entgegenwirken?«, fragte Johannes.

»Durch die innere Schau, die ohne Umwege direkt von Gott kommt, statt von einem Götzen«, war Teresas kühne Antwort. »Die Freiheit des Geistes ist in uns allen bereits vorhanden. Sie muss nur gedeihen, gepflegt und stetig versorgt werden. Wie ein junger Rebstock.«

Der Mönch nickte und nahm einen Schluck Wein aus einem hölzernen Becher. Dann hielt er inne. »Ist das nicht Blasphemie gegenüber der Kurie und diesem Habsburger?«

»Weltlich betrachtet schon«, so Teresa, »doch die unbefleckte Geistigkeit der vermeintlichen Würdenträger widerspricht sich in sich selbst.«

Johannes runzelte die Stirn.

»Du möchtest Antworten auf viele ungestellte Fragen, nicht wahr?«, fuhr die Ordensschwester fort, »ob ich sie dir wahrhaftig geben kann, sei dahingestellt. Nichtsdestotrotz habe ich meine Bemühungen in leidenschaftlicher Hingabe zu Papier gebracht. Zwar bin ich mit meinem Werke noch nicht fertig, aber gerne möchte ich dir daraus vorlesen! Interessiert?«

»Ich bin ganz Ohr!«

»Ich nenne meine Schrift ‚Die sieben Wohnungen der Inneren Burg’«, begann Teresa von Ávila ihre Ausführungen. »Es ist so, als empfange ich den Inhalt wie in einer Trance, in einer liebenden Aufmerksamkeit, als diktiere mir Gott selbst sein Wort in die Feder!«

Johannes nahm erneut einen kräftigen Schluck aus dem Becher.

»Alle sieben Wohnungen zusammen bilden das Haus des Vaters, des Allmächtigen«, so Teresa weiter, »diese Wohnungen in geistiger Reife des Menschen bedachtsam und entschlossen zu durchschreiten, ist unsere Aufgabe auf Erden. Es braucht keine Moral und keine Askese, nur Sanftmut und Stille. Wir können immer nur von einer Wohnung in die nächste gelangen und keine davon überspringen. Je weiter wir voranschreiten, je weiter führt der Weg nach innen. Wie in einer Spirale, die – statt stetig enger zu werden – sich stetig weitet zur Quelle hin. Diese Spirale ist dein Ich, am Ende wird sie von deinem Geist gänzlich überlagert und verliert in der Hingabe auch den letzten Rest ihrer Struktur. Nur so bist du in der Lage, dich anzunehmen, wie du bist, um Gott in dir zu erkennen. Ohne jede Furcht, ohne Hochmut und Stolz. Nur die eigene Erfahrung, dein eigenes Wirken ist dein Lehrer.«

In den Augen von Johannes standen Fragezeichen. »Liebe Freundin, ich vermag ein wenig von deiner Wahrheit zu fühlen, aber ich verstehe sie nicht!«

»Aber genau darum geht es doch!«, warf Teresa ein. »Nur wenn du wahrhaftig fühlen kannst, kannst du Gott schauen und dein Ich überwinden. Nicht religiös sollen deine Gefühle sein, sondern selbstlos. Das Ich nimmt sich und dich zu wichtig! Es ist dir immer dienlich gewesen, jedoch nur bis zu einem gewissen Punkt, bis zu einer gewissen Linie, bis zu einem gewissen Raum. Das Göttliche ist nur scheinbar außerhalb, denn es will in deinem tiefsten Inneren erweckt werden.«

»Es ist das Herz, nicht wahr? Bin ich dann im Innersten meines Herzens?«, wollte Johannes nun wissen.

»Ja und Nein«, verriet Teresa. »Ja und Nein gleichzeitig, der Verstand hilft hier nicht weiter. Lass mich dir vorlesen, was das Ziel ist: ‚Als ich heute unseren Herrn anflehte, er möge durch mich reden – weil mir nicht so richtig einfiel, was ich sagen, noch wie ich mit der Erfüllung dieses Gehorsamsauftrags beginnen sollte – , bot sich mir an, was ich jetzt sagen will, sozusagen als eine Art Ausgangspunkt, nämlich unsere Seele als eine gänzlich aus einem einzigen Diamanten oder sehr klaren Kristall bestehende Burg zu betrachten, in der es viele Gemächer gibt, so wie es im Himmel viele Wohnungen gibt.‘ – Den innersten Kristall zu finden, wäre der endgültige Weg ohne das Ziel und das Ziel ohne den Weg.«

»’In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn’s nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten?’«, zitierte Johannes die Heilige Schrift aus dem Evangelium seines Namensvetters.

Spontan und aus der Intuition heraus setzten Johannes und Teresa gemeinsam mit lauter Stimme den Text der Bibel fort, als hätten sie es vorher miteinander eingeübt: »’Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, auf dass auch ihr seid, wo ich bin. Und wo ich hingehe – den Weg dahin wisst ihr’«.

Beide, Teresa und Johannes, wussten aber nicht mehr genau, ob sie die Augen geöffnet oder geschlossen hielten, als plötzlich im gesamten Raum grelle Blitze zuckten und das Licht um sie herum an Intensität zunahm, als würde man ungehindert und ohne Blinzeln in die Sonne schauen. Es schien nicht mehr die Realität zu sein, doch vielleicht war es die Wirklichkeit? Außerhalb der Träume? Die Wände des Klosters wurden nach und nach durchbrochen, aufgelöst und mit Licht durchflutet, als sei es durch ein gigantisches Prisma geschickt, doch nur jeweils eine der Spektralfarben tauchte die gesamte Umgebung in eine entsprechend aussehende Landschaft aus Hügeln, Wäldern, Dörfern und Städten. Eine Landschaft, in der sämtliche Perspektiven und Proportionen nicht mehr stimmten. Das, was hinten war, war auch vorne und das, was oben war, war auch unten. Und umgekehrt. In Blautönen, in Rottönen, dann in Gelbtönen, dann abwechselnd, bis sich die Farben überlagerten und miteinander eine neue Realität erschufen, von der Johannes und Teresa insgeheim wussten, dass es sich um eine Vision aus der Quelle handelte. Die Farben sahen echter aus, als sie es jemals zuvor erlebt hatten. Die Menschen und auch Tiere, die sich innerhalb der neu geschaffenen Umgebung bewegten, widersprachen allein durch ihr Aussehen sämtlichen sonst gültigen Gesetzmäßigkeiten. Kinder waren Riesen und Katzen größer als Pferde. Adelige und Bauern wohnten in riesigen Pinienzapfen. Krankheit, Leid und Tod gab es nicht, auch keine Geburt. Nur die Ewigkeit, die allerdings einen Riss hatte. Warum, ließ sich im Wirrwarr der Gefühle nicht feststellen. Dann vibrierte die gesamte Szenerie, als würde sich ein Erdbeben ankündigen und das Wasser der Flüsse schickte sich an, sich unbändig aufzutürmen. Doch nichts von alledem geschah. Stattdessen wurde die Landschaft von einer Sekunde zur nächsten komplett schwarz bis zum Horizont, pechschwarz wie die Hölle! „Horror Vacui“. Jedoch nur für einen kurzen Augenblick. Teresa und Johannes fassten sich an den Händen, als eine gewaltige Flutwelle aus gleißendem Licht hereinbrach und die Dunkelheit vertrieb. Die beiden sich liebenden Freunde im Geiste wurden in schwungvollen, kreisenden Bewegungen nach oben gerissen, als würden sie einen gemeinsamen Tanz über den Wolken aufführen – in den Gewändern einer Braut und eines Bräutigams, die ihre Vermählung miteinander feierten. Vor Gott, dem Allmächtigen. Natürlich war es keine Hochzeit im normalen Sinne, sondern eine Vereinigung der Seelen. Körperlos und dennoch körperlich auf einer anderen Ebene des Seins. Nahe der Quelle.

Das Licht verlor erneut an Intensität und umhüllte Teresa und Johannes wie in einer durchsichtigen Kugel. Diese Kugel durchschwebte sechs verschiedene Räume des inneren Schauens, sechs unterschiedliche Lebenssituationen, welche die Schwester und den Bruder im Inneren verband. Die Bilder in den Räumen zogen mit einer unfassbaren Klarheit vorüber, die es bisher in dieser Deutlichkeit der erklärenden Zusammenhänge noch nie gegeben hatte. Bevor Teresa und Johannes in den siebten Raum, in die siebte Wohnung, gelangten, trugen sie wieder ihre normale Ordenskleidung. Die schwebende Lichtkugel entließ beide aus der schützenden Hülle. Sie sahen sich um. Der siebte Raum hatte weder Ecken noch Kanten, er leuchtete in Orangerot. Seine Wände waren wie riesige, gewölbte Blütenblätter, die jetzt aufgingen und nach hinten klappten. Sie gaben einen perfekt geschliffenen Kristall frei, der einen pulsierenden, violetten Kern hatte. Teresa und Johannes waren von seiner Schönheit überwältigt. Aber es war nicht nur die kristallene Schönheit, die ihnen ein unbeschreibliches Wohlbefinden vermittelte. Es war das Gefühl nichts mehr zu wollen, nur noch zu sein. In Harmonie und Frieden.

Dann klopfte es an der Tür – und die Vision war abrupt zu ende. Teresa und Johannes rissen die Augen.

»Was…?«, begann der Mönch eine Frage und stockte. Er holte tief Luft.

Erneutes Klopfen.

»Ja, bitte!«, rief die Priorin und atmete schwer.

Eine Ordensschwester von Sankt Josef kam zur Tür herein und erkundigte sich danach, ob noch der Wunsch nach weiterem Wein oder einigen Speisen bestehe. Dies war nicht der Fall und die Schwester entfernte sich. Dabei wünschte sie »eine geruhsame Nacht«.

Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz sahen sich ungläubig an. Die Erfahrungen, die sie gemeinsam erleben durften, würde nicht nur ihr ganz persönliches Leben dauerhaft verändern, es würde ebenso den Stein des Anstoßes in einem jedem erwachenden Meschen ins Rollen bringen. Sólo días basta – Gott allein genügt.

Anmerkung: Teresa von Ávila, bürgerlich Teresa Sánchez de Cepeda y Ahumada (1515-1582), wurde 1614 selig und 1622 heiliggesprochen, doch erst Papst Paul VI. erhob sie 1970 (!) als erste Frau überhaupt zur Kirchenlehrerin. 400 Jahre nach ihrem Wirken. Johannes vom Kreuz (1542-1591) wurde 1675 selig und 1726 heiliggesprochen, Pius XI. erhob ihn 1926 zum Kirchenlehrer.

Das verwendete Zitat in der Kurzgeschichte stammt aus „Teresa von Ávila – Wohnungen der Inneren Burg“, 1. Kapitel „Erste Wohnungen“, Seite 78 – Gesammelte Werke, Band 4, herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Ulrich Dobhan und Elisabeth Peeters, Herder Verlag 2005. Die zitierten Bibelstellen betreffen das Johannesevangelium, Kapitel 14, Verse 2 – 4. Übertragen in die heutige Zeit sind die „sieben Wohnungen“ gleichzusetzen mit sieben spirituell-energetischen Existenz-Ebenen, die ganz nebenbei an die buddhistische Lehre von den sieben Chakren (Energiezentren des menschlichen Körpers) erinnern. „Sólo días basta“, „Gott allein genügt“ bzw. „Nur Gott genügt“ – war der Wahlspruch der Teresa von Ávila. Ihre Lehren sind universell, konfessionsübergreifend und an keine historische Zeit gebunden.




Udo Brückmann, geb. 1967, lebt als Autor, Dozent und Coach im ländlichen Niedersachen. Zahlreiche Veröffentlichungen: Romane (Fantasy, Krimi, Historie), Kurzgeschichten, Lyrik, Gedichte für Kinder u.a. Alle Infos auf der Webseite https://www.udo-brueckmann.de/






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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