Robert Höpfner für #kkl46 „Traum, Realität, Wirklichkeit“
Was wäre, wenn
Was wäre, wenn ich mich von einem Tag auf den anderen in einer Wohnung in einem anderen Ort wiederfände, weit weg von meinem jetzigen Zuhause. Ich meine damit nicht, mich in dieser nur besuchs- und zeitweise aufzuhalten oder eine Ferienwohnung zu mieten, sondern in einer solchen neuen Wohnung dauerhaft zu leben.
Ich frage mich das jedes Mal, wenn ich woanders unterwegs bin. Dabei geht es mir gar nicht um eine beabsichtigte Verbesserung meiner Wohnstandards; auch steht nicht unbedingt das Motiv einer Flucht aus meinen jetzigen Lebensverhältnissen im Vordergrund. Es soll auch nicht eine Spielart von zeitlich befristetem Ausstieg oder eine Auszeit vom Zusammenleben mit meiner Partnerin sein. Ich suche mir jedes Mal ein mögliches neues Domizil auch nicht vordergründig nach dem Niveau der Wohngegend oder der Schönheit der Hausfassade aus, es kann ein Neubau sein genauso wie ein Jugendstilhaus. Auch wenn mir die Auswahl willkürlich vorkommt, so wird es wohl so sein, dass ich mich bei der Auswahl intuitiv-unbewusst von meinem jetzigen Domizil unterscheiden möchte.
Letzte Woche war es wieder mal so weit. Ich hatte einen Arzttermin in der entfernt von meinem Wohnort befindlichen Stadt, mit der mich – auch wenn sie mir nicht ganz fremd ist – nichts Besonderes verbindet. Und doch, oder vielleicht gerade deswegen, drängte sich wieder die Vorstellung auf, wie es wäre, wenn ich von heute auf morgen eine Wohnung beziehen würde in einem der Häuser, an denen ich vorüberfahre. Wie immer wählte ich ein Haus aus, ohne dass ich sagen, warum gerade dieses. Es war ein mehrstöckiges und unscheinbares Gebäude unbestimmbaren Baujahres. Ich entschied mich für eine Wohnung im dritten Stock, die nach meiner Einschätzung an der sichtbaren Frontseite höchstens drei Fenster aufweist, und offenbar über keinen Balkon verfügt; die Wohnung unterscheidet sich damit doch sehr von meinem jetzigen Domizil, das sogar über einen schönen Garten verfügt.
Ja, was wäre, ich würde plötzlich in dieser Wohnung in eben jenem Haus wohnen. Um von vorneherein allen Einwänden und Hindernissen praktischer Art zu entgehen, würde der Umzug mit einem Fingerschnipsen vonstattengehen. Die gesamte Einrichtung der jetzigen Wohnung, genauer gesagt, der Räume, die ich bewohne, würde sich wie von Zauberhand mit einem Schlag in der neuen Wohnung wiederfinden (Abstriche aus Platzmangel wären freilich hinzunehmen, insbesondere was den Umfang meiner Bücher angeht). Bei dieser Vision bleiben auch Überlegungen, was mit dem jetzigen Bewohner geschieht, außen vor; im Idealfall ist jene Wohnung sogar frei.
Keinem würde ich von dem Orts- und Wohnungswechsel etwas sagen, weder Verwandten, Bekannten und Leuten, mit denen sich über die Jahre Kontakte engerer und loserer Art ergeben haben. Auch den wenigen Freunden gegenüber würde ich Stillschweigen bewahren (Kollegen habe ich keine mehr, seit ich im Ruhestand bin). Was meine Partnerin dazu sagen würde, kann an dieser Stelle aus verständlichen Gründen nicht in Betracht gezogen werden.
Ungeachtet meines Gaukelbildes würde es mir auferlegt sein, mir ganz konkret ein neues soziales Umfeld zu schaffen; ich müsste praktisch bei null anfangen und Kontakte knüpfen, wo sie sich bieten. Das finge im Gemüseladen am Eck los und würde in der Bücherei oder beim Besuch in Cafés oder Museen und Ausstellungen enden. Als erstes, weil am Naheliegendsten, wäre es, mich bei meinen Wohnungsnachbarn und beim Hausmeister, soweit es einen solchen gibt, vorzustellen und mit ihnen ein paar Worte zu wechseln, mögen sie auch noch so banal sein. Doch hier wie anderswo werde ich über meinen Schatten springen müssen. Mir ist bewusst, dass ich zu alldem meine latente Kontaktscheu und den Hang, Begegnungen eher aus dem Weg zu gehen, überwinden müsste; Selbstüberwindung wäre meine fortan meine ständige Übung. So könnten sich nach und nach Bekanntschaften ergeben; ob es zu Freundschaften reicht, müsste man sehen. Und was Frauenbekanntschaften angeht; nun, das hieße, ein heißes Eisen mit nackten Händen anzufassen.
Ja, was wäre, wenn die Imagination tatsächlich Wirklichkeit werden würde. Es begänne am ersten Morgen damit, dass ich wie gewohnt am Schreibtisch vor dem PC sitzen würde, um an meinem aktuellen Text zu arbeiten. Doch schon meldet sich fragende ´Aber` zu Wort – wäre ich in der Lage, da weiterzumachen, wo ich im ehemaligen Zuhause aufgehört habe? Oder werde ich mit einer inneren Unruhe zum Fenster gehen und hinaus auf das ungewohnte von einer durchgehenden Häuserfront begrenzten Gegenüber sehen und das pulsierende Leben unten auf die Straße staunend und verwundert zugleich beobachten. Könnte sich eine, wenn auch eine vorläufig zage, Vertrautheit einstellen oder würde ich von der würgenden Fremdheit überwältigt? Auf der anderen Seite frage ich mich mit einem Kribbeln im Magen, ob gerade dieses Fremde und Unbekannte ein untrügliches Indiz dafür wäre, dass sich ein neues Lebensgefühl Bahn bricht – dass jetzt meine Zeit kommt, mit dem Geschmack von Freiheit und Abenteuer, die ich schon so lange ersehne. Oder würde ich von einem Strudel von Verlorenheit und Einsamkeit erfasst werden, der mich immer tiefer in den Drang hinabzieht, alles wieder rückgängig zu machen. Die Frage wäre, ob ich die Kraft aufbringen würde, wieder nach oben zu kommen. Ein Bild taucht da vor meinem inneren Auge auf, nämlich das der Weddelrobbe, die in der Arktis unter der Packeisdecke lebt und zum Atmen ein Loch braucht; damit dieses nicht zufriert, muss die Robbe ständig mit ihren Zähnen von den Rändern her das Zuwachsen des Loches verhindern. Auch wenn das Bild jetzt im Sommer weit hergeholt scheinen mag, so beschreibt es doch zutreffend, welche permanente Anstrengung es bedeuten kann, sich die Luft zum Atmen zu verschaffen. Ein Nachlassen der täglichen Bemühung führt dazu, vom Leben abgetrennt zu werden und am Ende zum Einfrieren der Seele.
Vermutlich würde ich mich wieder hinsetzen zu meinem unterbrochenen Unterfangen, einen Prosatext über das spezielle Flair eines verlassen daliegenden Schulhofes in den Ferien zu beschreiben. Doch schon wieder meldet sich das Aber – diesmal mit einer Vehemenz, die ans Eingemachte geht: Aber was sagen denn alle, die ich kenne und zurückgelassen habe, wenn sie merken, dass ich nicht mehr da bin, einfach weg, spurlos verschwunden, ohne eine Silbe des Abschiedes oder der Erklärung? (Hier sei erwähnt, dass ich dafür gesorgt haben würde, auch telefonisch und digital nicht mehr erreichbar zu sein. Wie ich das zuwege bringen würde, sei hier ausgespart.) Allein bei dieser Vorstellung käme ein anderes Bauchkribbeln auf, wie man es nach einem gelungenen Schelmenstück spürt. Doch ich ahne, dass dieses genüssliche Gefühl umgehend von dem des Wehmutes vergiftet werden würde. Mit dem einhergehend würde ich mich von Minute zu Minute drängender der Frage ausgesetzt sehen, was ich mit meiner Aktion bezwecke oder grundsätzlicher gefragt: Was will ich hier und jetzt? Was will ich überhaupt? Dabei hätte ich noch nicht mal die Wohnung verlassen, um mich auf den Weg zu machen, die nähere Umgebung nach Einkaufsmöglichkeiten zu erkunden und mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Zweifel würden über mich herfallen, die mir vorhalten, dass ich von allen guten Geistern verlassen oder nicht mehr bei Verstand sei. Sie gipfelten in dem bitteren Selbstwurf: ´Mein Gott, was habe ich nur gemacht´.
— An dieser Stelle muss ich die Geschichte beenden, da sie mich zu sehr mitnimmt. Vielleicht finde ich zu einem späteren Zeitpunkt die Kraft, sie fortzusetzen. Vorerst bleibe ich in meiner jetzigen Wohnung…
Robert Höpfner, geboren 1954 in München, seit 1981 in Grassau/Chiemgau, dort bis 2018 Geschäftsleiter der Marktgemeinde; danach Vorstand der Wolfgang-Sawallisch-Stiftung, Initiator des Literaturpreises ´Grassauer Deichelbohrer´.
Ich schreibe Lyrik, Prosa, Erzählungen, Essays; mehrere Buchveröffentlichungen
in verschiedenen Verlagen und Beiträge in Literaturzeitschriften.
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