Tolstois Dämonen

Katja Wilhelm für #kkl46 „Traum, Realität, Wirklichkeit“




Tolstois Dämonen

Ich liebe alte Filme! Ein Hollywoodschinken à la „Casablanca“ oder „Vom Winde verweht“ kann einen ganzen dummen Tag einfach löschen. Ein guter Film ist die Reset-Taste des Alltags, „Strg-Alt-Entfernen“ für emotionale Ausnahmezustände sozusagen. Der Begriff „Traumfabrik“ kommt nicht von ungefähr. Wir entkommen der Realität, um in einem fernen Paralleluniversum eine Auszeit zu nehmen, in welchem die Männer noch anständig und tapfer und die Frauen tugendhaft und schön sind. Die Guten und die Bösen kann man meist gleich in den ersten Filmminuten voneinander unterscheiden, ohne dass man sich mit Diskriminierungsvorwürfen, Schubladendenken und der leider notwendigen, nichtsdestotrotz jedoch komplizierten und daher lästigen, allgegenwärtigen „Political Correctness“ auseinander setzen muss. Ich will wissen, dass das Gezeigte nur ein Traum ist. Realität habe ich schon genug. Und der Hund muss überleben. Alles andere ist mir beim Tagträumen egal. Es müsste Filminfusionen geben, am besten auf Krankenschein. Wäre die Flatrate noch nicht erfunden, oder das Binge-Watching, wäre ich Patentanwärterin darauf. Ganz besonders angetan haben es mir die Verfilmungen der Romane von Leo Tolstoi. Das Russland des 19. Jahrhunderts übt auf uns heutige Zeitgeister aus gutem Grund einen ganz besonderen Reiz aus. Wer täglich Krieg in den Nachrichten sieht, will zum Krieg auch endlich den Frieden haben. Und Leo liefert zuverlässig. Natürlich blenden wir bei unserer Vorliebe für die eisgekühlte, emotional aber wohltemperierte, „gute“ alte Zeit auch gekonnt aus, dass ein Großteil der Bevölkerung damals noch in Leibeigenschaft und bitterer Armut gelebt hat. Damit kann man keine Romane füllen, auch und ganz besonders der narrative Workaholic Tolstoi nicht, der für die Erfindung der SMS und anderer Messenger-Dienste vermutlich absolut kein Verständnis aufgebracht hätte. Seine Figuren leiden mehr oder weniger stolz und aufrecht über mehrere tausend Seiten hindurch, bis ganz in der Manier von Shakespeare am Ende alles gut wird (Krieg und Frieden) oder die einzige aus damaliger Sicht moralisch vertretbare Lösung aus dem selbst verschuldeten Dilemma gewählt wird (Anna Karenina). Die Verfilmungen schaffen es in unterschiedlicher Qualität, seine wortgewaltigen Sprachlandschaften in die vergleichsweise einfache Sprache der Cineasten des 21. Jahrhunderts zu übersetzen. Der Regisseur muss allerdings Mut zur Lücke haben, und zwar jede Menge davon. Die Seitenstränge der Handlung leiden darunter gelegentlich mehr als die Protagonistinnen und Protagonisten, die durchschnittlichen, modernen Kinogeherinnen und Kinogeher und Filmjunkies eher weniger. Aus heutiger Sicht fänden wir es vermutlich auch überzogen, wie leidende, zurückgewiesene Männer ihre Enttäuschung kompensieren, indem sie gemeinnützige Arbeit als Steckenpferd für sich entdecken. Sie mähen ihren Frust über verschmähte Heiratsanträge gemeinsam mit der gemeinen Landbevölkerung nieder bis zur völligen Erschöpfung. Oder sie bauen Schulen für die Kinder der gemeinen Landbevölkerung, die – Leo war halt eindeutig ein Kind seiner Zeit – die Mühe und den Aufwand weder zu schätzen noch zu würdigen weiß. Wozu Schule? Wozu lernen? Allein schon die Tatsache, dass Bücher in diesen Filmen immer nur der elitären Oberschicht vorenthalten bleiben, sollte mich als Autorin eigentlich vom Träumen abhalten. Stattdessen halte ich treu zur Fahne und schwelge weiter. Was mir bleibt, als Lohn meiner vollständigen Hingabe an eine utopische Zeitreise, sind die schönen Seiten der „guten“ alten Zeit unterm Zaren. Wir hätten da zum einen die schönen Frauen, die manchmal die falsche Entscheidung treffen, manche sogar gleich mehrmals. Sie steuern wie die Lemminge ins Meer und mit selbstzerstörerischer Präzision ihrem Untergang entgegen, nicht ohne vorher noch größtmöglichen Schaden für alle Beteiligten anzurichten. Dann hätten wir die guten und gut aussehenden Männer. Sie sind nicht alle ehrbar, sonst hätten die Frauen ja kein moralisches Dilemma, in das sie schlittern könnten wie auf russischen Seen im Winter. Die bösen Männer sterben beim Duell, die unbequemen auf dem Schlachtfeld und die ganz besonders fiesen fallen einer heimtückischen und hochansteckenden Krankheit zum Opfer. Leo spart nicht mit der moralischen Keule. Sein Karma waren Syphilis und Tripper. Napoleon nicht zu vergessen. Aber im Fall der Fälle ist immer ein Retter in der Not zur Stelle, der eine akzeptable Lösung anbieten kann: Karenin bietet seiner Frau mehr als einmal ein VIP-Ticket zurück ins geordnete und gesellschaftlich anerkannte, wenn auch langweilige Leben mit ihm. Sie, ganz Profilneurotikerin ihrer Zeit, springt lieber vor den Zug. Natascha aus „Krieg und Frieden“ wird vom Leben und der Liebe gerüttelt und geschüttelt, bis sie schließlich der immerwährende beste Freund und brüderliche Aufpasser aus Kindertagen vor der nächsten Fehlentscheidung rettet. Einem gemeinsamen Leben mit ihm steht dann nichts mehr im Wege. Nicht einmal die Tatsache, dass er weder Held noch Traummann ist, stört dieses traumhafte Happy End. Gott sei Dank ist er wenigstens reich und adelig. Hier legt Tolstoi die Latte für die Männer natürlich ziemlich hoch. Gab es diese Männer in dieser Form jemals überhaupt? Und wenn ja, waren sie lediglich ein Produkt der Zwänge ihrer Zeit, oder handelten sie aus echter ritterlicher Überzeugung? Wir Frauen leiden unter diesen Dämonen einer traumhaften Vergangenheit bis heute. Erfolglos wird sie bleiben, die Suche nach dem Ritter auf dem weißen Pferd, der im richtigen Moment das Richtige sagt und tut. Es tut, vor allem! Ein Frauenleben heute ist im Prinzip immer noch ein einziger stummer Handlungsimperativ an die Männer. Manchmal ist es auch einfach nur zum Schreien. Im Unterschied zu damals allerdings haben wir die Wahl, ob wir unser Leben in Männerhände legen und das Beste hoffen, oder unser Korsett ein wenig enger schnüren, die imaginäre Krone richten und dem eigenhändig gesattelten Pferd einfach die Sporen geben. Zwischen Heirat und Selbstmord gibt es eine interessante Bandbreite an Lösungen, die uns die Entscheidungsfreiheit zwischen Traum und Alptraum bietet. Wer weise wählt, spart sich das böse Erwachen.




Katja Wilhelm, Jahrgang 1975, studierte Klassische Archäologie und Ur- und Frühgeschichte an der Universität Innsbruck. Nach ihrem Abschluss war sie beruflich in verschiedenen akademischen Bereichen tätig. Seit 2021 lebt und arbeitet sie hauptberuflich als freie Texterin und Autorin in der Nähe von Innsbruck. Sie ist Mitglied der „Mörderischen Schwestern“ und hat bislang drei Kriminalromane, eine Erzählung und einen Essayband veröffentlicht.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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