Patrick Kühnel für #kkl47 „Symbolik“
Die Handtasche
Hannelore wusste, dass sie heute besonders achtgeben musste, der Tag war entscheidend, denn Jupiter und Venus standen im Quadrat. War nicht zudem schon die Tatsache, dass direkt vor ihrem Anruf in Dr. Beiswangers Praxis eine Patientin abgesagt hatte, ein Wink des Schicksals gewesen? Ein Zeichen einer höheren Macht, die sie zusammenführen wollte? Sie musste diese Gelegenheit nutzen, denn bis zur nächsten günstigen Konstellation hätte sie die Schmerzen kaum ausgehalten und Dr. Beiswanger hätte es allein schon aus medizinischer Sicht nie und nimmer verantworten könnte, ihre Einladung zum Konzert anzunehmen. Sie hatte alles genau eingefädelt: Ihren Schulfreund Willy hatte sie gebeten, den heute geplanten Skatabend kurzfristig abzusagen, sodass Beiswanger frei war. Die Karten zum seit Monaten ausverkauften Violinkonzert hatte sie auf dem Schwarzmarkt für ein halbes Monatsgehalt erstanden, auch wenn sie ihm gegenüber behaupten würde, es sei ihr von einer erkrankten Freundin überlassen worden. Es gab schlichtweg keinen Grund, weshalb er ablehnen sollte.
Dummerweise war heute der 13., zwar kein Freitag, aber das allein war ein zu großes Risiko, als dass sie sich ihm ungewappnet aussetzen sollte. Vorsichtshalber packte Hannelore daher noch das Hufeisen in ihre Handtasche, das sie bei einem ihrer Spaziergänge in der Nähe des Gestütes Weinberger aufgelesen hatte. Aber würde das reichen? Für große Notfälle bewahrte Hannelore einen Plastikbeutel mit tiefgefrorenen Kleeblättern im Gefrierfach auf. Es gab einer Stelle in der Nähe des Friedhofes, wo diese im Frühsommer in ungewöhnlicher Dichte aufzufinden waren. Sobald die Saison kam, deckte Hannelore sich ein. Auch hier wollte sie stets auf der sicheren Seite sein, denn immerhin konnte man auch von außen einige der Grabsteine sehen und so vergaß sie nie, sich vor und nach ihrer Ernte jeweils eine Prise Salz über die linke Schulter zu werfen. Dazu hatte sie sich eigens einen Salzstreuer in Form eines Glücksschweines angeschafft, den sie stets und daher auch beim heutigen Besuch mit sich trug. Nachdem sie nun auch vorsorglich gleich zwei steifgefrorene Kleeblätter in das Sichtfach ihrer Geldbörse geschoben hatte, fühlte sich sicher und für alle Eventualitäten gerüstet.
Nun war es schon 10 vor 5, sie musste sich schicken, damit der Termin, der heute sein letzter sein sollte, nicht an jemand anderen weitergegeben wurde. Sie eilte zur Haustür und schlüpfte in ihre Schuhe, griff an die Türklinke und hielt inne. Falsch, nicht mit dem linken zuerst … noch einmal. Sie stellte ihre Handtasche ab und zog die Schuhe aus, nur um sie gleich darauf wieder anzuziehen, diesmal den rechten zuerst – so, jetzt war alles in Ordnung. Eilig verließ sie das Haus und stürmte auf den Gehsteig, die Willmerstraße hinunter. Doch nach wenigen Sekunden erstarrte sie, sie schlug sie die Hand vor den Mund, Panik breitete sich auf ihrem Gesicht aus, dann Resignation. Aus! Vorbei! Sie hatte ihre Chance vertan. Die glücksbringende Handtasche lag noch dort, wo sie sie beim zweiten Anziehen der Schuhe abgestellt hatte! Ihr erster Impuls hieß sie, zurückzulaufen und die Tasche einfach zu holen. Aber es fühlte sich falsch an: Zurückzugehen, um die Tasche zu holen, kam ja nicht infrage, es war allgemein bekannt, dass es Unglück brachte, umzukehren, um vergessene Gegenstände zu holen. Und wenn man einmal zuließ, dass sich das eigene Glück aus Nachlässigkeit durch Unglück dominieren ließ, verscherzte man es sich mit dem Schicksal und würde seinen Lebtag aus dem Unheil nicht mehr herauskommen. Auch das wusste jeder. Am Boden zerstört drehte sich Hannelore um und kehrte mit hängenden Schultern nach Hause zurück, schloss die Türe auf, hob die Handtasche vom Boden auf, packte deren Inhalt wieder zurück und ging zum Telefon, um zu retten, was noch zu retten war. „Ich muss den Termin heute leider doch absagen, mir ist etwas Dringendes dazwischengekommen“, sagte sie mit aufgesetzter Geschäftigkeit zur Sprechstundenhilfe. Diese entgegnete im Ton ehrlichen Bedauerns: „Das ist aber ein Pech, Dr. Beiswanger hatte mich extra gebeten, sie vor dem Termin zu fragen, ob sie Zeit hätten, mit ihm nach Praxisschluss das Mozartkonzert zu besuchen. Sie hatten ihm so von der Solistin Kim Ok-Jung vorgeschwärmt, dass er seine Beziehungen spielen ließ und tatsächlich noch zwei Karten ergattern konnte. Er wird bestimmt sehr enttäuscht sein.“
Hannelore erstarrte. Sie legte schweigend auf und schlich wie in Trance ins Wohnzimmer. Dort ließ sie sich auf dem durchgesessenen Canapé nieder, das schon zu Kinderzeiten ihr Lieblingsplatz zum Nachdenken gewesen war und versank in tiefes Grübeln. Sie rekonstruierte die Kette der Ereignisse … Das Unglück am Telefon war erst eingetreten, nachdem sie zu Hause angekommen war, aber ohne, dass sie die Tasche mitgenommen hatte. Das konnte nur bedeuten … Plötzlich durchschaute sie die verhängnisvolle Wirkungskette: Natürlich! Die Gunst von Venus und Jupiter wurde durch das heutige Datum ins Gegenteil verkehrt. Ihre eigene Korrektur beim Anziehen der Schuhe allerdings hatte das Schicksal erneut zu ihrem Vorteil gewendet und zwar in doppelter Stärke. Durch das Umkehren auf der Straße hingegen hatte sie diesen Vorteil leichtfertig verspielt. Aber das hieß doch … Hannelore erblasste vor der Konsequenz: Sie hätte nur den letzten Schritt gehen und die Tasche mit den Glücksbringern zurückerobern müssen und die Oberhoheit über ihr Schicksal wäre ihr nicht mehr zu nehmen gewesen …
Drei Tage später stolperte sie in der Lokalzeitung über folgende Überschrift: Koreanischer Geigenstar: Heimliches Rendezvous in Szenebar. Darunter ein lächelndes Bild der Violinsolistin Arm in Arm mit – Dr. Beiswanger. Hannelore gab es einen Stich ins Herz. „Die Sterne lügen nicht“, dachte sie. Immerhin waren die Zahnschmerzen weg.
15 Jahre hat sich Patrick Kühnel (geb. 1970) durch die verschiedensten Fächer von Islamwissenschaft über Jura bis Mathematik studiert, sich als Fensterputzer, Straßenmusiker und Projektmanager in der Automobilindustrie verdingt, mehrere Jahre in Ostasien verbracht bis er 2005 schließlich in Allgemeiner Linguistik promovierte und schließlich im akademischen Betrieb landete. Zurzeit lebt er mit seiner deutsch-chinesischen Familie in Peking. Das Leben ist für ihn ein Kaleidoskop aus ungelebten Geschichten und Identitäten, aus dem er ab und zu einen gestaltlosen Splitter herausreißt, um ihn sprachlich ins Sein zu zwingen.
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