Tee mit Honig

Jean Hannawald für #kkl47 „Symbolik“




Tee mit Honig

Fünf Stunden war er weg. Im Regen ohne Schirm. Er hängt die nasse

Jacke auf einen Bügel an die Garderobe. Feuchtigkeit sammelt sich,

rinnt die Ärmel hinunter und tropft auf das Parkett. Er schlurft in die Küche

und betätigt den Wasserkocher. Die Tasse ist oben im Schrank, der

Teebeutel in der Anrichte gegenüber. Er findet alles und stellt es bereit,

während das Wasser zu brodeln beginnt. Tasse befüllen, den Beutel

eintunken, sechs Minuten ziehen lassen. Löffel danebenlegen. Der Honig

fehlt. Ohne schmeckt ihm der Tee nicht.

Sie beobachtet ihn, als er in der Küche hantiert.

„Im Schrank oben beim Zucker“, sagt sie.

Er nickt und öffnet die Schranktür. Früher, als es seine Wohnung war,

stand der Honig in der Anrichte, neben dem Tee. Da, wo er hingehört.

Er rührt etwas Honig in die Tasse.

„Warst du wieder am See?“, fragt sie. „Bei dem Wetter?“

Er sagt nichts, umfasst die heiße Tasse mit beiden Händen, ohne sie

anzusehen. Gleich wird sie ihm Vorwürfe machen, das macht sie immer.

„Du hättest denen Bescheid sagen müssen, die haben sich Sorgen

gemacht. Du kannst nicht einfach so abhauen!“

Er pustet in den Tee und nimmt einen Schluck.

Sie greift nach ihrem Handy und tippt auf das Display.

„Ich sage, dass du aufgetaucht bist und fahre dich gleich vorbei.“

Er pustet wieder in die Tasse, stellt sich vor die Glastür zum Balkon und

sieht in den Vorgarten. Er hört nicht, was seine Tochter am Telefon sagt.

Draußen wird es langsam dunkel, der Regen hat nachgelassen. Ein

Eichhörnchen sitzt auf dem Blumenkasten und starrt ihn durch die Scheibe

an. Es bewegt sich nicht. Er bleibt stillstehen und sieht zurück.

Seine Tochter hört auf zu telefonieren und kommt zu ihm. Sie legt ihre

Hand auf seine Schulter.

„Trink in Ruhe aus, dann bring ich dich zurück. Ich wusste nicht, dass

du noch einen Schlüssel zur Wohnung hast. Leg ihn nachher bitte

auf die Ablage. “

Die Hand wird zurückgezogen und er sieht wieder hinaus. Das Eichhörnchen

ist verschwunden. So, als wäre es nie dagewesen.

Er nimmt einen Schluck. Der Tee ist nicht mehr heiß.

„Ich bin kurz im Bad“, sagt die Tochter. Ihre Schritte klackern auf dem

Parkett.

Er wartet, bis das Geräusch verstummt, stellt die Tasse in das Spülbecken

und geht in den Flur. Den Schlüssel legt er auf die Ablage und greift nach der

Jacke auf dem Bügel. Eine kleine Pfütze hat sich auf dem Boden gebildet. Das

ist nicht gut für das Holz. Er überlegt kurz, es aufzuwischen, aber dafür

bleibt keine Zeit. Die Tür zieht er leise hinter sich zu.




Jean Hannawald hat viele Semester Germanistik in Göttingen studiert, für mehrere Zeitungen im Bundesgebiet geschrieben und diverse Bars und Einrichtungsstudios betrieben. Er lebt und schreibt in Berlin.







Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Hinterlasse einen Kommentar