Der Keim des Windes

Fabienne Schärer für #kkl47 „Symbolik“




Der Keim des Windes

In seiner Kindheit, am Rand des Waldes aufgewachsen, hütete ein kleiner Junge, der die Natur und das Zeichnen überaus liebte, ein Geheimnis wie einen kostbaren Schatz: Anil glaubte fest daran, dass die Bäume den Wind schufen. Jedes Rascheln der Blätter, jedes leise Knarren der Stämme oder das Wiegen unzähliger Äste schien für ihn eine Verabredung zwischen diesen hohen Gewächsen zu sein, um den Wind zu erwecken und ihn über die Lande zu schicken. Wenn eine Brise über Anils Arme strich und ein Rauschen aus dem Wald drang, verspürte er stets ein Gefühl, als würde bald etwas Bedeutendes geschehen. Doch nie gelang es dem kleinen Künstler richtig, die Bäume so zu skizzieren, dass man sah, wie sie den Wind machten und welche Empfindungen er in ihm auslöste. 

Während er heranwuchs, sprach eines Tages jemand zu ihm: „Nicht die Bäume erschaffen den Wind, mein Junge. Sie tanzen nur im Rhythmus seiner unsichtbaren Herkunft.“ Zusammen mit dieser Einsicht, über die Anil tief enttäuscht war, packte er seinen Stift für lange Zeit weg.

Erst als die Jahre dahinzogen, kletterte er als junger Mann auf einen Berg, um dort abermals zu versuchen, den Wind auf einem Blatt Papier einzufangen. Vielleicht würde er sogar beobachten können, wie die Lüfte sich sammelten und sich zu Wirbeln formten, um über die hohen Hügel zu ziehen, hinunter bis in die Wälder. Aber auf dem Gipfel hauchte dann nur eine zarte Brise durch seine Locken, strich säuselnd um seine Ohren und sang ein sanftes Lied, das in die Tiefen seines Herzens drang. Seine Erwartung war jedoch eine andere gewesen. Er hatte auf eine einzigartige Offenbarung gehofft oder auf die Erscheinung eines Windgeistes, der einen Sturm anzettelte. Mit dem Wispern einer Botschaft, die so subtil war wie der Flügelschlag eines Kolibris, konnte er nichts anfangen. Wiederum landete wenig auf seinem Stück Papier.

Weitere Jahre vergingen, in denen der erwachsene Künstler um die Welt zog, auf der Suche nach dem Ort, wo der Wind entstand. Dabei entdeckte er, dass es kaum ein Gefilde gab, in dem sich die Luft nicht auf irgendeine Weise rührte. 

Nachdem noch mehr Jahrzehnte vorübergezogen waren, fand er sich hoch auf der Spitze eines einsamen Berges wieder, nun als alter Mann. Während der Wind durch sein ergrautes Haar strich und um sein Gesicht tänzelte, fühlte er sich auf unerwartete Weise erneut mit dieser geheimnisvollen Kraft verbunden, die vor langer Zeit in sein Herz geflossen war. Doch dieses Mal verstand er. Und wenn er damals als junger Mann bereit gewesen wäre, jenem Wispern zuzuhören, hätte er lernen können, dass ein Teil seiner Mission im Leben als Künstler darin bestand, inneren Frieden zu finden.

Langsam führte Anil seinen Stift auf das weiße Papier. All die Empfindungen, welche der Wind in ihm je hervorgerufen hatte, versuchte er nun auszudrücken. Er strichelte, schabte und radierte, bis eine fertige Zeichnung entstanden war. Wirr und doch sanft geordnet hatten seine gekonnten Striche ein abstraktes Bild geschaffen, dem es gelang, den Betrachter nicht nur mit dem Auge zu fesseln, sondern tief in sein Innerstes zu dringen. 

Die Zeichnung ging um die Welt. Anil hatte mit seiner Jagd nach dem Wind erreicht, das Lied des Friedens in die Herzen der Menschen zu zeichnen.

Fortan blieb der alte Künstler auf dem Berg, bis er ein Greis geworden war und den äußeren Wind vom inneren Klang seines Herzens nicht mehr zu unterscheiden wusste.




Fabienne Schärer ist 1967 geboren und lebt in der Schweiz. Sie ist Dichterin (Lyrik, Haiku, Miniaturgeschichten), Autorin und alternative Forscherin (Sachtexte, Artikel). 

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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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