Der Freimaurer

Stephie Abels für #kkl47 „Symbolik“




Der Freimaurer

Es ist klirrend kalt in diesem Winter 1943. Hubert haucht sich seinen Atem in die Hände. Die Finger spüren die Wärme des Atems kaum. Die Menschen um ihn herum eilen vorbei, jeder flieht vor dem Frost. Keine Chance irgend jemanden anzusprechen.

„Kaufen Sie ein Los für die Reichswinterhilfe-Lotterie!“

Hubert schaut irritiert. Der Junge hat ihn gemeint. Schon die Kleinsten werden in Uniform gesteckt und lernen, was sie denken sollen. Gleichgeschaltet im Rassenwahn. Beharrlich steht der Junge vor ihm, er ist vielleicht 14 Jahre alt.

„Sie haben noch kein Abzeichen von diesem Jahr. Es gibt jetzt diese Blumen. Hier, sehen Sie!“

Stimmt, Hubert trägt noch das Vergissmeinnicht am Revers, ganz bewusst. Das war vor fünf Jahren das Abzeichen des Winterhilfswerks. Andere Abzeichen als die staatlich ausgegebenen sind nicht mehr erlaubt. Was der Staat nicht weiß, ist dass das Vergissmeinnicht noch eine weitere Bedeutung bekommen hat. Aber nur für die, die es zu lesen wissen.

Dieser Junge ist aufgeweckt und hartnäckig. Er bleibt fordernd vor Hubert stehen.

„Sie wollen kein Los kaufen? Sind Sie ein Kommunist? Die brauchen wir hier nicht.“ Seine Stimme wird drohend. Hubert wird unsicher. Fremd in dieser Stadt, wird er keine Chance haben.

„Jetzt weiß ich, Sie sind ein 175er! Na warte…!“ Der Junge in der braunen Uniform kommt auf Hubert zu und will ihn packen. Hubert kann sich nicht schnell genug bewegen, so durchgefroren wie er ist von der Kälte. Umso erstaunter nimmt er wahr, wie eine Hand die Schulter des Jungen in Uniform packt und ihn zurückhält.

„Lass mal gut sein, siehst du nicht, dass der Mann sein Geld für sich selbst braucht?“ Der Junge in Uniform schaut entgeistert in das Gesicht, das zu der Hand an seiner Schulter gehört. Kurz arbeitet es in seinem Kopf, aber er wagt keine Widerworte. Grummelnd verschwindet er.

Hubert schaut den anderen Mann vorsichtig an.

„Brauchen Sie Hilfe?“ hört er ihn fragen.

„Ich habe noch keine Unterkunft für heute Nacht. Aber warum wollen Sie mir helfen, Sie kennen mich doch gar nicht?“ fragt Hubert misstrauisch.

„Wer ein Vergissmeinnicht trägt, arbeitet vielleicht auch mit Winkelmaß und Zirkel?“ fragt der Mann freundlich.

Hubert kann es nicht glauben, was er da hört. Der andere Mann hat ihn erkannt. Es gibt noch welche von uns. Tränen treten in seine Augen.

„Komm, Bruder,“ sagt der Mann und führt ihn sanft am Arm. „Ich hab noch Eintopf zu Hause.“




Stephie Abels, Jahrgang 1976, lebt und arbeitet im Herzen des Ruhrgebiets.

Als promovierte Juristin mit altsprachlicher Schulbildung setzt sie sich schon ihr Leben lang mit den verschiedenen Facetten der Sprache auseinander. Sie schreibt beruflich, und sie schreibt privat. Und sie veröffentlicht ihre Kurzgeschichten und Gedichte in Literaturzeitschriften und Anthologien. In ihren Texten beschäftigt sich Stephie Abels insbesondere mit der Übersetzung von Emotionen in Worte. Im Mittelpunkt immer: der Mensch.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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