Innehalten …

Dr. Andreas Lukas für #kkl47




Innehalten …

Wie lange schwelgen wir schon im Mehr, Schneller, Stärker, Weiter, Höher und Luxuriöser? Bis Winzlinge uns Grenzen aufzeigten, Erschütterungen nicht mehr zu verleugnen sind. Immer mehr Risse in Gesellschaft und Leben. Zeigt sich jetzt die andere Seite des alltäglichen Lebens, greift eine andere Sicht- und Verhaltensweise nach Raum und Aufmerksamkeit? Symbolik einer anderen Zeit?

Ganz gleich, wie schnell wir die heiß geliebte Schnelligkeit leben, das Quantum der gemachten Erfahrungen zu denen, die wir letztlich zu verpassen glauben, diese Relation wird nie größer, sondern unweigerlich kleiner. Die auf Spur gebrachten, auf den nicht zu sättigenden Lebensstil ausgerichteten Wesen laufen diesem wie Lemminge chancenlos hinterher, unablässig in dem Glauben, diesen Wettlauf gewinnen zu können. Bei aller technologischen Revolution, Schnelligkeit und jederzeitigen Verfügbarkeit von immer mehr Dingen macht sich eine Sehnsucht nach Sinn, Wertigkeit, Dasein und zu sich selbst Kommen breit, kurz eine Sehnsucht nach Entschleunigung und Stille.

Stille bedeutet mehr als einfach nur still zu sitzen, still zu sein oder nichts zu tun. Es ist der Rückzug aus unserer immer stärker reizüberfluteten Welt, aus unserem rund um die Uhr aktiv gestalteten und erlebnisüberhäuften Alltag, der Rückzug aus der ständigen Erreichbarkeit und dem überall Eingebundensein, der 24h-Verfügbarkeit.

»Zeit ist das, was uns fehlt, wenn sich zu viel ereignet.« Mit diesem Satz des Chemie-Nobelpreisträgers Manfred Eigen wird unsere aktuelle Situation treffend umschrieben. Wir erleben unterschiedliche Geschwindigkeiten in allen Lebensbereichen. Und nicht nur der Titel und Inhalt des erfolgreichen Buches von Harpe Kerkeling »Ich bin dann mal weg« hat bereits vor einigen Jahren die Aufmerksamkeit auf diese neue alte Sehnsucht des Menschen gelenkt. Viele Menschen spüren diese Sehnsucht. Sie ist aber oft nicht greifbar oder wirklich bewusst. Und nur allzu häufig löst sie bei vielen Angst aus und führt zu noch mehr Aktivität und noch mehr Ereignis-, Erlebnis- und Sensationssucht. Der unausweichliche Weg in einen alles dominierenden Zeitkäfig?

Wir kennen und erleben ständig die Phänomene der 24h-Gesellschaft, in der es keinen Platz mehr für ein Innehalten gibt, die keine Pausen mehr kennt oder zulässt und ohne Unterlass ein vermeintliches Ereignis an das andere reiht, ständig nach neuer Aufmerksamkeit heischend. Hand in Hand geht damit die immer stärkere und radikalere Bewirtschaftung unseres an sich nicht zu vermehrenden Zeitkontos einher. Nur keine Stagnation, nur keine Passivität zulassen, schneller leben heißt die Devise in der Informations-, Gigabyte- oder Nanosekunden-Kultur, die mit Zeiteinheiten rechnet, die unser Gehirn nicht mehr wahrnehmen, geschweige denn reflektieren kann. Die rasante Entwicklung der Informationstechnologie hat dieses Phänomen noch verstärkt. Smart-Phone, Facebook, TikTok und Co. stehen dafür, jederzeit an allem teilhaben zu können, Tag und Nacht für jeden und alles erreichbar zu sein.

Mut zur Nichterreichbarkeit

Die Informationstechnologie scheint es uns vorzumachen und vorzugaukeln, dass wir parallel an vielen Dingen gleichzeitig teilhaben könnten. Unser Gehirn aber kann dies nicht wirklich. Wir können mehrere Dinge nicht gleichzeitig tun, sondern nur sehr schnell im raschen Wechsel nacheinander machen. Aber je schneller wir zwischen verschiedenen Aufgaben wechseln, desto mehr Zeit brauchen wir zur Erledigung der einzelnen Aufgaben. Durch Multitasking wird, wie Untersuchungen belegen, die Leistungsfähigkeit insgesamt eher beeinträchtigt. Wenn alles zu jeder Zeit verfügbar wird, erliegen viele der Versuchung, dies auch jederzeit besitzen zu wollen. Viele werden zu Sklaven der verfügbaren Techniken und das Informationsermüdungssyndrom macht die Runde. So produzieren wir oft zeitaufwändig immer mehr Informationsmüll.

Wenn uns also die ganze Welt in kleinsten Einheiten von Bruch-Sekunden auf Schritt und Tritt zugeschaltet wird, bleibt uns dann nicht zwangsläufig nur Hilflosigkeit oder besser Teilnahmslosigkeit? Wissen und erfahren wir dann überhaupt noch etwas von der wahren Wirklichkeit, gerade weil uns so viel Wirklichkeit im Nanosekundentakt ohne Zutun auf dem Hightec-Tablet serviert wird?

In den vergangenen Jahren haben wir fast alle Bereiche, ob beruflich oder privat, einer Zeitrationalität unterworfen, die uns einer immerwährenden Beschleunigung ausgesetzt hat. Dies führt aber auch zu einer Reizüberflutung, mit der wir längst nicht mehr Schritt halten können. Schnelligkeit als das alleinige Credo unserer Gesellschaft und Wirtschaft gerät dadurch zumindest ins Wanken. Und immer mehr von uns spüren eine Sehnsucht nach Entschleunigung und Stille wieder neu, das Bedürfnis nach Rückzug und Besinnung, nach Ankommen und Dasein, nach Entschleunigung.

Schon ein afrikanisches Sprichwort sagt: »Das Gras wächst nicht schneller, wenn du daran ziehst.« Und der Trendforscher Matthias Horx umschrieb dies einmal wie folgt: »Nicht die Zeit ist knapp, sondern wir wollen zu viele Dinge in ihr erledigen. Die Lust an der Geschwindigkeit, an höherer Intensität existiert in uns allen – aber auch die Sehnsucht nach Verzögerung und Aus-Zeiten.« Dazu gehört jedoch auch der Mut, Dinge einmal langsamer angehen zu lassen, der Mut zur Nichterreichbarkeit, der Mut zum Müßiggang, der Mut zum Nichtstun, der gleichzeitig Energiequelle für eine neue Kraft sein kann.

Der normale Alltag in unserer technisierten Kultur lässt vielfach keine Pausen zu. Er degradiert sie zu Langeweile und Zeitverschwendung. Wir alle haben gelernt, unsere Zeit zu rationalisieren. Wie keine andere hat unsere Epoche die technische und soziale Organisation fast aller Lebensbereiche unter das Motto der immer und überall rationalisierten Ressource Zeit gestellt. Jedoch schon in der Antike war man sich bewusst, dass die Welt sich total verändert, wenn man sie aus der Perspektive der Langsamkeit betrachtet. Dafür steht die Methapher vom Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte.

Zeit ist aber nur deshalb da und für uns wahrnehmbar, weil sie vergeht. Würde sie stehen bleiben, dann würden wir sie nicht wahrnehmen können. Zeit scheint sich immer nur dort zu manifestieren, wo ein Beobachter ihr Verstreichen bemerkt und davon betroffen ist. Während wir bei der objektiven Betrachtung der Zeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sprechen, können wir die subjektiv erlebte Zeit mit Erinnerung, Betrachtung und Erwartung beschreiben. So messen wir die Zeit auch nicht als Sache, sondern nur ihr Verrinnen, wie es die Sanduhr trefflich veranschaulicht.

Verschwinde doch du Augenblick …

Die Innovationsrate, sprich die Neuerungen: Töne, Farben, Bilder, Gerüche, Landschaften, Menschen, Meinungen, Gegenstände, ja Gefühle, welche in kleinster Zeiteinheit auf uns einwirken, wachsen ins Unermessliche an. Wir können sie geistig und emotional kaum noch abarbeiten. Sie lassen uns daher kalt, wir gehen auf Distanz. Das heißt, wir lassen sie schon nach flüchtigster Berührung wieder fallen und eilen weiter zu neuen Ereignissen.

Eilen wir also nach dem Motto »Verschwinde doch du Augenblick, du dauerst schon viel zu lange und verstellst mir nur den Blick für Neues« von Ereignis zu Ereignis, von Erlebnis zu Erlebnis ständig im Bestreben, neue Effekte zu erhaschen, Highlights oder Sensationen zu sammeln, die aber alle ihre Wirkung sehr schnell wieder verlieren? Für die Rastlosigkeit und Dynamik unseres modernen Lebens hat uns schon Goethe in seiner Figur des Faust ein treffendes Beispiel gegeben: »Ihn sättigt keine Lust, ihm genügt kein Glück, so buhlt er fort nach wechselnden Gestalten.«

Theater, Kunst, Literatur und Musik machen es uns vor, dass andere Sinne gefragt sind, wenn es einmal still wird, wenn Menschen sich in Stille begegnen. Es ist wie bei einem Wassertropfen, der in einem ruhigen See seine Kreise zieht. Wir würden ihn nicht bemerken, wenn er in eine aufgewühlte Brandung fiele. Und es scheint, als hätten wir es in unserer Zeit verlernt, Stille und Schweigen, Ruhe und Langsamkeit zulassen zu können – oft aus Angst, sich selbst oder anderen zu begegnen.

Wenn Schweigen nicht als Unsicherheit oder Verlegenheit empfunden, sondern als wohltuende Pause und neue Quelle wahrgenommen wird, die den Menschen bereichert und inspiriert, dann verändert sich die persönliche Einstellung und Wahrnehmung gravierend. Schweigen und Stille können zu Symbolen einer neuen Orientierung werden. Pausen und Stille werden nicht mit Nichtstun, Faulheit oder Langweile gleichgesetzt, sondern sind kreative und konstruktive Momente, die neue Ideen geben und Regeneration ermöglichen.

Sind die Menschen denn wirklich unersättlich und wollen ständig mehr und anderes, wie viele Entwicklungen und Phänomene unseres Lebens in den zurückliegenden Jahrzehnten uns näherbringen wollen? Die grundlegende Annahme der Ökonomie scheint dies zu bestätigen. Die Volkswirtschaftslehre beruht auf der Annahme der Nichtsättigung. Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte mit immer neuen Produkten, vielfältigeren Angeboten und immer schnelleren Produktlebenszyklen sprechen für das »Immer-mehr«. Mit der durch die Schnelligkeit ausgelösten Reizüberflutung spüren wir aber auch, dass wir reizökonomisch längst über unsere Verhältnisse leben, dass wir nicht mehr Schritt halten können mit den selbstinszenierten Welt- und Umweltveränderungen, die sich vor allem als Beschleunigungs- und Vervielfachungseffekte und immer öfter als Bedrohungspotenziale herauskristallisieren.

Die jeweilig angemessene Geschwindigkeit zu finden, die den einzelnen Entwicklungsprozess vorantreibt, ihn und sein Resultat aber nicht gefährdet, ist die stetige Aufgabe aller, die unsere Gesellschaft prägen, ob in Wirtschaft oder Politik – eine Kunst der richtigen Tempi. In unserer hektischen und immer unüberschaubarer werdenden Welt kann es an der Notwendigkeit von ruhenden, Orientierung gebenden Polen keinen Zweifel geben. Dabei ist nicht die Langsamkeit und Entschleunigung an sich interessant, sondern das damit verbundene enorme kreative Potenzial, das in Zukunft noch dringender gebraucht wird zur langfristigen Sicherung unser aller Überlebensfähigkeit. Und vielleicht greift die Erfahrung um sich: »Das Leben beginnt dort, wo Momente innehalten!«




Dr. Andreas Lukas, aufgewachsen im Saarland nahe der französischen Grenze, lebt in Wiesbaden.

Er ist tätig als Autor und freier Journalist und Mitglied der „Gruppe 48“. Sein zweiter Roman „Die ungleichen Gleichen“, Begegnung zweier junger Menschen, sie auf dem Lande aufgewachsen, er Flüchtling, führte ihn mit dem „Pianist aus den Trümmern“ Aeham Ahmad zusammen. Daraus entstand das Buch „TAXI DAMASKUS – Geschichten, Begegnungen, Hoffnungen“, erschienen 2021.

Andreas Lukas erreichte bei den Planet Awards 2019 Platz 4 bei „Künstler des Jahres“, Platz 5 bei „Autor des Jahres“ und Platz 6 bei „Buch des Jahres“. Zum Berliner Literaturpreis „Wortrandale 2019“ war er für den Radio-Sonderpreis nominiert. Bei „Literatur zwischen den Jahren 21/22“ von radio889fmkultur erreichte er die „Best of …“. Zur „Literatur des Monats“ von radio889fmkultur hat er die Favoritenliste April 2022 erreicht.

Publikumspreis beim Hildesheimer Literatur-Wettbewerb 2022

Publikationen:

  • Gemeinsam eins! Together one!, CD-Album – Ideen, Gedanken und Menschen mit Akkorden, Tönen, Liedern und Worten zusammenführen, hrsg. von Aeham Ahmad u. Andreas Lukas (s. Gedicht auf Seite 61)
  • Aeham Ahmad/Andreas Lukas: TAXI DAMASKUS – Geschichten, Begegnungen, Hoffnungen, 2021
  • Andreas Lukas: Die ungleichen Gleichen, Roman, 2018
  • Andreas Lukas: Nie mit, aber auch nicht ohne, Roman, 2017
  • Andreas Lukas: „WELTEN-GEWITTER“ zur BUCHBerlin

Präsentation auf der BuchBerlin am 17./18. September 2022

WELTEN-GEWITTER, Spiegel unserer Zeit, romanhafte Erzählungen, 208 Seiten, ISBN 978-3-98503-102-3

Mitglied „Die Gruppe 48“, Juror,

Preisträger des Hildesheimer Literatur-Wettbewerb 2022, Publikumspreis

„Sein Lyrik-Debüt „Unser blauer Diamant“ ist im Herbst 2023 erschienen“ 

„Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland“

Kontakt für Lesungen, Auftritte oder Bestellungen: dr_lukas@t-online.de

Web-Seite: www.andreas-lukas.eu

Interview mit Dr. Andereas Lukas HIER








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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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