Humbug

Ursula Förschner für #kkl47 „Symbolik“




Humbug

»Komm, Egon, zieh eine Karte, für den Tag«, sagte sie und hielt ihm mit herausforderndem Blick den Stapel hin, den er nur zu gut kannte.

Kam sie schon wieder damit an!

Er schluckte den letzten Bissen seines Schinkenbrots hinunter und murrte: »Du weißt doch, dass ich davon nichts halte!«

»Sei kein Spielverderber!«, lachte sie und fächerte die Karten mit der Rückseite nach oben auf.

Widerstrebend zog er eine aus der Mitte und sah sie fragend an. »Da steht einer auf einem Bein – was soll das?«

»Du musst sie umdrehen«, kicherte sie, »er hängt. Es ist der Gehängte

Kurz riss er die Augen auf, dann erwiderte er empört: »Werde ich heute gehängt, oder was?«

»Ach, geh«, beruhigte sie ihn belustigt und fügte gedankenvoll hinzu: »Du hängst wohl irgendwie fest und solltest … etwas aus einer anderen Perspektive betrachten.«

 »Bitte, lass mich in Ruhe mit diesem Schwachsinn!« Dafür hatte er jetzt echt keinen Kopf. Mit abwesendem Blick warf er die Karte auf den Tisch, fischte sein Handy aus der Hosentasche und lugte nach der Uhrzeit. »Fast sieben, ich muss los!« Er schnappte Jacke und Aktenkoffer, drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und lief zur Tür. Unvermittelt drehte er sich wieder um und brummte: »Wie sollte denn eine Karte meinen Tag beeinflussen? Dass du an sowas glaubst!«

Grinsend kam sie ihm nach und erwiderte: »Sie beeinflusst nicht deinen Tag, sie spiegelt nur, was ist. So wie bei deinem Handy – das beeinflusst auch nicht die Uhrzeit, sondern zeigt sie einfach an.«

Befremdet schüttelte er den Kopf. Was sollte das?

Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Es war schon nach sieben. Jetzt musste er rennen, um den Bus zu erwischen. Dennoch ließen ihn ihre Worte heute nicht los.

Er sprintete die zwei Stöcke hinunter und drückte das schwere, hölzerne Eingangstor auf.

Ups! Fast wäre er in den Wagen hineingerannt, der direkt vor der Tür parkte. Am Gehsteig! Welcher Idiot macht denn sowas? Man kam kaum aus der Tür! Was für eine Frechheit!

Das Blut schoss ihm in den Kopf, während er sich seitlich zwischen Hauswand und Auto durchschob. »Unverschämt!«, fluchte er. Wie sollte man hier mit einem Kinderwagen durchkommen? Oder mit einem Rollstuhl? Und natürlich wieder kein Polizist in der Nähe! Wenn er einmal zu schnell fuhr, nur um ein paar km/h, war immer ein Gesetzeshüter da, oder ein Radar, und er musste blechen. Doch hier? Niemand! Anzeigen sollte er diesen Wahnsinnigen!

Nach einem kurzen Blick auf das Nummernschild und der Überlegung, sein Handy zu zücken und ein Foto zu machen, fiel ihm wieder die späte Uhrzeit ein.

Jetzt aber los! Er schloss seine Faust fester um den Bügel seiner Tasche und beschleunigte seine Schritte. Um acht hatte er ein Meeting mit dem Chef. Mitarbeitergespräch. Einmal im Jahr. Und diesmal ging es um seine Beförderung! Er hatte hart gearbeitet, war gewissenhaft, zielstrebig … und immer pünktlich. Wie viele Aufträge hatte er im letzten Jahr an Land gezogen? Fünfzehn? Zwanzig?! Nun war endlich der verdiente Aufstieg fällig, nachdem er zuvor kontinuierlich übergangen worden war. Diesmal würde sich der Chef nicht wieder herausreden können. Bei seinem Einsatz!

Ein drohendes Motorengeräusch schreckte ihn auf, worauf ihm stickiger Rauch in die Nase stach. Der Bus! Was? Schon? Aber das würde er schaffen. Er musste!

Nun rannte er, so schnell er konnte, ohne auf seine zunehmende Atemlosigkeit zu achten. Der Bus hielt an der Haltestelle. Leute stiegen aus, Leute stiegen ein. Dann: „Achtung! Türen schließen!“

„Nein!“ Mit einem letzten Sprint war er an der hintersten Tür und hämmerte mit der Faust dagegen. „Mach auf, verdammt!“, keuchte er.

Keine Chance. Der Bus fuhr ab.

»Das darf doch nicht wahr sein!«, brüllte er so laut, dass ihn eine ältere Passantin verstört ansah.

Völlig außer Atem ließ er seine Tasche zu Boden fallen, stützte sich auf den Knien ab und japste nach Luft. Hochrot, mit zitternden Händen, kämpfte er damit, seine Fassung wiederzufinden. Verdammt! Gerade heute! Immer war er pünktlich gewesen. Immer! Und ausgerechnet heute würde er zu spät kommen?!

Ein beängstigendes Stechen in seiner Brust ließ ihn abrupt innehalten. Unwillkürlich griff er sich an die Herzgegend. Die Enge raubte ihm fast den Atem, Panik schoss durch seinen Körper.

Natürlich. Der Arzt hatte ihn gewarnt. »Sie haben zu viel Stress, Herr Ebenberger«, hatte er gesagt, »da helfen Medikamente nur bedingt. Sie sollten mehr auf sich achten, sich entspannen. Leichter Ausdauersport wäre zu empfehlen. Mit ihrer Kondition steht es absolut nicht zum Besten.«

Ja, ja, das wusste er. Er wusste es. Und er würde sich darum kümmern. Nach seiner Beförderung. Danach!

Als der Schmerz nachließ, richtete er sich mühsam auf und ging zur Bank im Wartehäuschen. Besetzt. Eine junge Mutter mit ihren Kindern und ein älterer Herr. Egal. Still herumsitzen könnte er jetzt sowieso nicht. Er warf einen Blick auf die Uhrzeit, packte seine Tasche und marschierte an der Haltestelle auf und ab. Auf und ab. So als würde die Zeit dadurch schneller verstreichen. Also, subjektiv. Ganz sicher war das so. So verging sie schneller.

„Haha, schau mal!“, rief plötzlich der Junge und stellte sich breitbeinig hin, den Kopf zwischen die Beine gesteckt. „Deine Füße sind oben, und dein Gesicht unten!“

Seine Schwester kicherte: „Das kann ich auch!“

Unwillkürlich musste Egon an die Karte denken. Der Gehängte … umgedreht … eine neue Perspektive. Er schüttelte das Bild ab.

Die Kinder aber johlten weiter herum und standen vorbeigehenden Leuten im Weg. Und die Mutter? Die scherte sich einen Dreck darum!

Konnte er sich denn heute über alles ärgern?

Auch Elli sagte es ihm immer wieder: »Schatz, reg dich nicht so auf. Denk an dein Herz!«

An sein Herz denken, ja, ja. Wie konnte man da schon ruhig bleiben?

Endlich kam der nächste Bus.

Egon atmete auf. Ein Blick auf die Uhrzeit. Verdammt! Fünf Minuten zu spät würde es werden. Gerade heute!

Schließlich rannte er ins Bürogebäude, hinauf in den ersten Stock, schweißnass und voller Hektik.

»Haben Sie denn die Nachricht vom Chef nicht bekommen?« Der Sekretär sah ihn erstaunt an und ließ seinen Blick über die aufgelöste Erscheinung wandern. »Er hat Ihnen doch geschrieben, dass er den Termin auf neun Uhr verschieben muss.«

»Nein«, stammelte Egon, »nein … danke. Kein Problem.«

Neun? Gott sei Dank!

Nun schritt er vor dem Büro des Chefs auf und ab. Auf und ab. Irgendwie war heute alles verbohrt. Der volle Stress und trotzdem ging nichts weiter. Als würde er auf der Stelle treten – genau wie hier im Gang. Er rannte herum und kam nicht voran. Wie in seinem Job. Seit Jahren wartete er darauf, bemühte sich, doch – nichts. Stillstand. Und dieser Stillstand trieb ihn zum Wahnsinn. Natürlich hatten sie recht. Es war an der Zeit, etwas zu ändern, mehr auf sich zu achten, auf seine Gesundheit … Gekonnt schob er den Gedanken beiseite.

Endlich war der Chef da. »Bitte, Herr Ebenberger, kommen Sie herein«, sagte er freundlich und bot ihm einen Platz an. Nach einem Blick in seine Akten fuhr er fort: »Lieber Kollege, Ihre Arbeit ist wirklich herausragend. Fast zwanzig neue Aufträge! Ein großes Kompliment an Sie!«

Die lobenden Worte seines Vorgesetzten ließen Egon wachsen. Also hatten sich seine Mühen doch gelohnt! Ein erleichtertes Lächeln huschte über sein Gesicht, und er atmete tief durch, während sich die Anspannung in seinen Schultern löste. In seinem Geiste rieb er sich die Hände und stellte sich vor, wie er seiner Frau die frohe Nachricht überbringen würde. Wie stolz würde sie auf ihn sein!

Der Chef wog den Kopf hin und her, blickte ihn über seine Brille hinweg an und fuhr anerkennend fort: »Ich freue mich, einen engagierten Kollegen wie Sie in meinem Team zu haben. Da können wir nächstes Jahr über eine Beförderung nachdenken. Weiter so!« Er erhob sich und reichte ihm die Hand zum Abschied.

Perplex saß Egon da, fast unfähig aufzustehen. Hatte er irgendetwas überhört? Oder falsch verstanden? Nächstes Jahr? Nächstes Jahr?

Ferngesteuert ging er zur Tür und stand wieder am Gang.

Nächstes Jahr?

Er wankte, plötzlich drehte sich alles um ihn herum. Gerade noch konnte er sich am Wasserspender abstützen und ließ sich auf den Sitz daneben sinken.

Nächstes Jahr?

Wozu das Ganze? Wozu? Er kämpfte mit den Tränen, die ihm die Enttäuschung und das Entsetzen in die Augen getrieben hatten. Jetzt nur nicht heulen!

Doch genau danach war ihm zumute.

Was sollte er denn noch tun, um endlich weiterzukommen? Er hatte ja schon alles versucht. Alles gegeben. Doch nichts brachte ihn voran, als hielte ihn eine ungreifbare Macht gefesselt. Waren all seine Bemühungen zum Scheitern verurteilt? Jede Anstrengung schien ihn nur tiefer in die Verstrickung zu ziehen. Egal, was er tat, er steckte fest. Er atmete stoßweise, seine Brust hob und senkte sich unter der Last eines zermalmenden Gewichts. Sein Herz peitschte gegen die Rippen, während sein Blut mit unerbittlicher Wucht in seinen Kopf hämmerte. Mit einem Ruck presste er die Handflächen an die Schläfen, die Finger gruben sich in seine Haut, sodass es schmerzte. Und dann, in blankem Wahnsinn, brach es aus ihm heraus – ein Schrei, tonlos, und dennoch so ohrenbetäubend, dass er meinte, sein Schädel müsse jeden Augenblick zerspringen.

Schließlich, aus reiner Gewohnheit, trottete er zurück an seinen Arbeitsplatz, den ganzen weiteren Tag unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. In völligem Nebel saß er da, vollführte schlafwandlerische Handlungen, die keinen Sinn ergaben.

»Haben Sie einen Hänger?«, fragte seine Kollegin scherzhaft, als er auf ihren Zuruf wiederholt nicht reagierte.

Einen Hänger?! Ja. Offenbar war er der Gehängte.

Morgen würde er zuhause bleiben. Vielleicht war der Job doch nicht das Richtige für ihn. Vielleicht sollte er sich neu orientieren. Mehr auf sich selbst schauen. Wirklich alles aus einem anderen Blickwinkel betrachten.

Ja, vielleicht. Wer weiß? Wer konnte das schon wissen …?

Am Abend kam er erschöpft heim.

Was für ein Tag!

Elli war nicht da. Ach ja, sie traf sich mit Elisa!

Er sank aufs Sofa, da sah er die Karte von heute Morgen neben dem Stapel liegen. Er hob sie auf und blickte sie angestrengt an. Lange.

Schließlich schleuderte er sie in die Ecke und polterte: »Alles Humbug!«




Ursula Förschner, geboren 1966 in Wien, lebt und arbeitet in Österreich. Als Ganzheitliche Naturheiltherapeutin hat sie zahlreiche Menschen auf ihrem Weg zur persönlichen Entfaltung begleitet, was auch ihre literarische Arbeit stark prägt. Sie setzt sich seit ihrer Jugend intensiv mit den Themen Geschlechterrollen, Spiritualität und weibliche Selbstbestimmung auseinander. Ihre Geschichten spiegeln oft die Polarität und Einheit des Menschseins wider, inspiriert durch ihre beruflichen Erfahrungen und ihre persönlichen Überzeugungen. Ihre aktuellen Projekte umfassen zwei Romane über die mythologische Figur Lilith, diverse Gedichte und Liedtexte sowie mehrere Kurzgeschichten







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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