Erich Romberg für #kkl48 „Vernunft“
Grenzen der Wissenschaft
So kann es mit mir nicht weitergehen!
Ich bin eigentlich ein rationaler Mensch, der seine Maxime an der Vernunft ausrichtet. Als Physiker habe ich gelernt, analytisch und kausal zu denken.
Aber in letzter Zeit ist alles etwas aus dem Ruder gelaufen. Wenn ich frühmorgens gegen 11 Uhr aufwache, mit einem Gefühl im Kopf, als hätten Heerscharen von Spinnen mein Gehirn zu einem dichten Knäuel zusammengeschnürt, wenn ich Unterhose und Socken als Einheit in einem halbleeren Weinkrug mit kalifornischem Rotwein eingeweicht vorfinde, dann ist das weder logisch noch sonst wie vernünftig. Ich erinnerte mich dunkel daran, dass ich gestern in einem halbseidenen Bistro irgendeinem Idioten die Ohren vollgesülzt hatte. Wie war es möglich, dass das, was mir gestern noch vernünftig erschien, heute von meinem Verdrängungsmechanismus so stark bearbeitet wurde? Das Einzige, was mich tröstete, war die Gewissheit, dass dieser Primat mit aufstrebenden Ambitionen andächtig an meinen Lippen gehangen und den Edelschwachsinn, den mein abstürzendes Hirn noch zu produzieren vermochte, für Wissenschaft aus erster Hand gehalten hatte. Tja, unter den Hirnlosen in einem Schickimicki-Etablissement ist der Halbamputierte eben immer noch König.
Nach dem zweiten Schluck schwarzen arabischen Mokkas reifte in mir die Sehnsucht nach dem Urwesen meiner Existenz, und nach dem dritten Schluck Mokka wusste ich, dass dieses Urwesen in mir die Vernunft war. Jetzt war ich bereit, den Schweinehund in mir bei den Hörnern zu packen und herauszureißen. Gegen 16.00 Uhr fühlte ich mich stark genug und machte mich daran, die Alkoholvorräte zu vernichten. Ich ignorierte den Magenkrampf, als ich den irischen Middleton Whisky in die Spüle schüttete. Ich ignorierte auch die Herzattacken, als ich acht Flaschen des besten Rioja auf die gleiche Reise schickte. All diese Angriffe auf Leib und Leben waren nichts gegen die Genugtuung, wieder bei Sinnen zu sein.
Am nächsten Morgen, dem ersten alkoholfreien seit Jahren, fühlte ich mich per definitionem großartig. Mir wurde klar, wie sehr ich das Gefühl vermisst hatte, morgens ohne Rausch aufzuwachen. Der nächste Schritt war nun, mein Leben und Handeln auf die Ebene rationalen und vernünftigen Verhaltens zurückzuführen.
Die erste Aufgabe erwartete mich schon bei der Zubereitung des Frühstücks. In meiner Küche fristete seit langem ein Eierkocher sein Dasein, der durch den Verlust des Messbechers praktisch unbrauchbar geworden war. Mein wiedererlangtes rationales Denkvermögen ließ objektiv zwei Möglichkeiten zu. Wegwerfen oder neu kalibrieren. Dazu benötige ich nur einen Messzylinder und einen CD-Edding.
Ersteres verwarf ich sowohl aus ökologischen als auch aus ökonomischen Gründen. Durch mein Physikstudium hatte ich die Voraussetzungen, einen Eierkocher perfekt zu kalibrieren. So entschloss ich mich, den Eierkocher in einem erweiterten Kalibrierverfahren für die Größenklassen S bis XL in der Mengenvariation 1 bis 6 Eier für die Garzustände weich, mittel und hart neu zu kalibrieren. Mir war klar, dass die größte Empfindlichkeit für den Kochzustand „mittel“ zu erwarten war, da bei „hart“ mit einer gewissen Idealzeit und einem Delta plus keine nennenswerte Qualitätsänderung zu erwarten war. Ebenso würde ich mich „weich“ schrittweise annähern können, indem ich den Idealpunkt „mittelhart“ ermittelte. Ich entschied mich daher für eine zweiseitige Iteration, um mich dem extrem labilen Zustand mittelhart anzunähern.
Für die erste Versuchsreihe besorgte ich mir 240 Eier und eine Präzisionswaage. Pro Größenklasse standen mir 60 Eier zur Verfügung. Ich entschied mich willkürlich, mir zunächst mit einigen Orientierungsmessungen in einer Vorversuchsreihe von 6 Eiern der Größenklasse XL eine Ausgangsposition zu erarbeiten. Auf die Einzelheiten der Eierkochereichung möchte ich hier nicht eingehen, da dies den Rahmen dieser Geschichte sprengen würde.
Bereits nach einem Versuchstag konnte ich absehen, dass ich meine tägliche Versuchsmenge auf mindestens 500 Eier erhöhen musste. In einer Rekordzeit von nur 15 Tagen habe ich 6800 Eier unterschiedlicher Härte erzeugt. Das Ergebnis der Versuche war die Ableitung einer universellen Eierkochfunktion für meinen Eierkocher.
Ich muss nur noch die Anzahl der zu kochenden Eier, deren Größe und den gewünschten Härtegrad vorgeben und erhalte die benötigte Wassermenge. Heureka!
Diese Eierkocherfunktion hatte ich als C-Programm auf einen USB-Stick kopiert und zusammen mit meinen Versuchsprotokollen bei der Eierkocherfirma eingereicht. Die Antwort der Firma war ebenso niederschmetternd wie banal. Dieses Modell werde seit über drei Jahren nicht mehr hergestellt. Das war ein herber Rückschlag, denn die Ergebnisse sind nicht ohne weiteres auf ein anderes Eierkochermodell übertragbar.
In diesem Zusammenhang war es für mich nicht banal, dass meine langjährige Freundin mit mir Schluss gemacht hatte. Sie hatte kein Verständnis für meine wissenschaftliche Arbeit. Der wissenschaftliche Ruhm, der mir darüber hinweggeholfen hätte, blieb mir versagt.
Ich besorgte mir sechs Flaschen 30 Jahre alten Midleton Whisky und 60 Flaschen besten Rioja, dazu ein paar Fässer Bier und organisierte eine Frustparty. Die 50 Liter Eiersalat, die zum Imbiss gereicht wurden, waren ein guter Anfang, um wieder zur Normalität zurückzukehren.
Ich habe aus dieser Niederlage gelernt, nicht jeden Quark zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen zu machen, denn das ist nur Eierei.
Erich Romberg wurde 1950 in Nordrhein-Westfalen geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Er ist Diplom Physiker und hat in seinem Berufsleben an der Ruhruniversität Bochum zunächst als Plasmaphysiker in der Kernfusionsforschung gearbeitet. Später führte er ein Ingenieurbüro für Umwelttechnik in Bochum und war Fachgutachter für Immissions- und Klimaschutz. Er leitete Windkanalversuche zur Ausbreitung von Schadstoffen an Straßen und simulierte lokalklimatische Auswirkungen von Gewerbebebauung in Frischluftschneisen in einem selbstentwickelten Klimakanal.
Zum Beginn des letzten Jahrzehnts des 20 Jahrhunderts verlegte er seinen Wohnsitz in den irischen Westen nach Kiltimagh. Wegen der unmittelbaren Nähe zum internationalen Flughafen in Knock konnte er weiterhin Forschungs- und Gutachterprojekte für Deutschland abwickeln. Er kehrte 2003 nach Deutschland zurück und beendete 2005 endgültig seine Gutachterlaufbahn.
In Irland fand er Muße und Gelegenheit zum Schreiben von Erzählungen, Kurzgeschichten und Lyrik.
Heute lebt der Autor in Sachsen-Anhalt auf dem Lande mit seiner Frau und seinem minderjährigen Sohn.
Der Autor hat, bis auf ein paar kleineren Lyriktexten in Anthologien, bisher noch keine Veröffentlichungen, sucht aber seit Kurzem einen Verlag für sein fertiggestelltes Buch mit dem Arbeitstitel:
GESCHICHTEN ERZÄHLT AN IRISCHEN TORFFEUERN
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