Jan Moritz für #kkl48 „Vernunft“
Bar jeder Vernunft
Ich sah das Namensschild über der Kneipe und rollte mit den Augen. Luzie bemerkte es.
„Was’n los, Papa?“ fragte sie. Ich blieb stehen.
„‘Bar jeder Vernunft‘“, las ich vor. Und weil Luzie nicht gleich reagierte, ergänzte ich: „Ist ein Wortspiel.“
„Wieso? Das ist doch nur eine Bar, in die jede Vernunft reindarf“, spekulierte Luzie.
„Wer ist denn ‚jede Vernunft‘?“ fragte ich. „Gibt es mehrere?“
„Mehrere Vernünfte“, kicherte Luzie. „Sagst du nicht auch immer: ‚Es gibt mehrere Wahrheiten‘? Dann kann es doch wohl auch mehrere Vernünfte geben!“ Und sie grinste mich an.
Ich stockte kurz. Dann konzentrierte ich mich: „Also, an sich gibt es nur EINE Vernunft. Etwas ist vernünftig oder auch nicht.“
Luzie überlegte. „Aber wenn ich es sehr vernünftig fände, dass du mir jetzt ein Eis kaufst, und du das nicht vernünftig findest, ist es dann noch vernünftig?“
„Äh“, staunte ich über den Einfallsreichtum meiner Tochter. „Es kommt wohl auf die Perspektive an.“
„Dann ist das ja doch wie mit der Wahrheit – es gibt mehrere davon!“ triumphierte Luzie.
„Na gut“, gab ich klein bei. Ich war aber auch ein bisschen stolz auf sie.
„Also kaufst du mir jetzt ein Eis?“
Ich schüttelte den Kopf. „Trotzdem ist das mit ‚Bar jeder Vernunft‘ nicht so gemeint, dass da verschiedene Vernünfte einkehren. Die Vernunft ist doch keine Person. Und selbst als Allegorie würde sie da nicht reingehen.“
„Allegro-was?“
„Allegorie. Die konkrete, oft personifizierte Darstellung eines abstrakten Begriffs“, dozierte ich.
„Personifi…?“
„Wenn etwas als Mensch dargestellt ist, was aber keiner ist, sondern ein Begriff, der normalerweise nicht dargestellt werden kann. Wie zum Beispiel Vernunft.“
Luzie zog die Stirn kraus. „Wenn also die Vernunft eine Allego-dingsda ist, sähe sie aus wie ein Mensch? Warum geht sie dann nicht in die Bar?“
„Weil sie ja trotzdem kein Mensch ist.“
„Warum sieht sie dann aus wie einer?“
„Damit man sie sich vorstellen kann.“
„Das irritiert doch aber total“, protestierte Luzie. „Sieht aus wie ein Mensch, ist aber irgendein Begriff.“
„Stimmt“, gab ich zu. „Aber man hat früher, als viele Menschen nicht lesen konnten, allegorische Figuren auf Bildern oder als Portalfiguren an Kirchen dargestellt, damit die Leute dann wenigstens Symbole erkennen konnten.“
„Woran kann man denn die Vernunft erkennen, wenn sie ein Mensch ist?“
„An ihren Attributen, also dem, was sie bei sich trägt. In diesem Fall vermutlich ein Buch oder irgendetwas Gelehrtes.“
„Das muss man dann aber auch wissen, sonst erkennt man sie ja nicht“, warf Luzie skeptisch ein.
„Das hat den Leuten früher vermutlich der Priester erklärt, oder der Pastor, je nachdem.“
„Dann hätte er einem ja gleich zeigen können, wie das mit dem Lesen geht“, tat Luzie meine Erklärung ab.
Ich seufzte. „Da hast du wohl Recht. Und trotzdem ist das bei dieser Bar nicht gemeint, also, dass Vernünfte hier einkehren.“
„Sondern?“
„‘Bar‘ bedeutet hier so viel wie ‚ohne‘. Ist ein etwas altertümliches Wort.“
„‘Ohne jeder Vernunft‘“, übersetzte Luzie.
„Ohne jede“, korrigierte ich. „‘Bar‘ steht mit Genitiv, ‚ohne‘ mit Akkusativ.“
Luzie warf mir einen tadelnden Blick zu. Dann sagte sie aber doch: „Also ‚ohne jede Vernunft‘.“
„Genau.“
„Warum sagen die das dann nicht gleich?“
„Wegen des Wortspiels.“
Luzie antwortete nicht, also sagte ich nach einer kleinen Pause: „Bar und bar, verstehst du?“
„Mann Papa, das ist mir schon klar“, maulte sie, dachte dann weiter angestrengt nach.
„Worüber denkst du dann noch nach?“
Luzie wandte mir den Kopf zu. Ich sah den Schalk in ihren Augen.
„Darüber, dass da jetzt trotzdem mehrere Vernünfte mit ihren Büchern unterm Arm hineingehen und darüber diskutieren, was sie trinken wollen. Und eine davon gibt mir jetzt ein Eis aus, nämlich die, die das auch vernünftig findet.“
„Aber die Bar heißt doch ‚OHNE jede Vernunft‘. Also ist deine auch nicht da drin.“
„Nein, die ist hier draußen geblieben, denn das Eis gibt’s ja auch nicht da drin, sondern da vorn an der Ecke. Vanille und Schokolade, bitte!“
Ich tastete automatisch nach meinem Portemonnaie. Dann spürte ich der Sonne auf meinem Gesicht nach.
„Klingt gar nicht so unvernünftig“, sagte ich.
„Sag‘ ich doch“, lachte Luzie und zog mich zum Eisladen.
Jan Moritz ist Jahrgang 1972 und Gymnasiallehrer. Er lebt und arbeitet in Kiel. Manchmal wollen die Worte aber keinem Lehrplan folgen. Dann suchen sie sich einen anderen Weg, zum Beispiel diesen hier. Oder sie tauchen anderswo auf, wie in der #kkl39 „Hinter der Zeit“ oder in den Anthologien „Im Fadenkreuz der Archetypen. Märchen, Sex und Gender“, „Der Sommer trägt Queer“, „Das Buch der vergessenen Geschichten“ und „Vermächtnisse. Spuren des Todes“.
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