Die Sicht meiner vernünftigen Seite

Emilia Walder für #kkl48 „Vernunft“




Die Sicht meiner vernünftigen Seite

Ich sitze im Schneidersitz auf meinem goldbestickten Kissen, mein hellblaues, langes Gewand fällt über meinen Körper. Ich wirke entspannt, aber aufmerksam, still, aber allwissend. In meiner Umgebung scheine ich die Mächtigste zu sein, doch ist das die Wahrheit? Seit ich Form angenommen habe, habe ich mich nie von meiner Position bewegt; es ging nicht. Ich war und bin wie gefesselt. Dünne Seile schnüren meinen Körper an das Kissen, das wie am Boden festgenagelt ist. Man kann meine Fesseln nicht sehen, aber ich spüre sie bei jedem Atemzug. Für jedes andere Individuum wäre das der pure Horror, doch ich weiß, dass Panik oder Verzweiflung mich der Freiheit kein Stück näherbringen würden. Ich sehe es nicht als Gefangenschaft, ich sehe es als einzigartige Fähigkeit, die Weiseste hier zu sein, ohne dass mir jemals Bewegung möglich war. Doch auch ich musste lernen. Ich musste lernen, dass ich dich nicht immer retten kann, sogar in den Momenten, in denen du meine Hilfe am meisten brauchen würdest. Ich kann viele Situationen lösen und ich weiß, wie man die Situationen vermeidet, in denen es unmöglich ist, eine Lösung zu finden. Das Einzige, was ich tun kann, ist zu flüstern, zu sprechen und, wenn es sein muss, zu schreien, so laut, wie ich nur kann. Aber gerade in diesen Momenten wurden meine Schreie erstickt. Entweder war meine Stimme so geschwächt, dass sich nur hauchende Wörter bilden konnten, oder mir wurde die Fähigkeit, mich zu äußern, gar ganz genommen. Ich musste vor langer Zeit lernen, zu akzeptieren, das Wissen für das richtige Handeln zu haben, es aber in den meisten Fällen nicht anwenden zu können. Denn ich bin nicht du und du bist nicht ich. Auch wenn ich ein Teil von dir bin, bin ich meine eigene Person, und auch wenn meine Worte die wichtigsten sind, sind sie leider nicht die lautesten. Das musste ich lernen, während meine Augen so viel still beobachtet haben.

Ich habe dich gesehen. Ich habe dich gesehen, als du dich Tag für Tag gegen dich gewendet hast. Ich habe dich gesehen, als du dachtest, nun sei dein letztes Jahr auf dieser Welt. Ich habe dich gesehen, als du Entscheidungen getroffen hast, ohne an die Konsequenzen zu denken, die fatal hätten sein können. Ich habe dich gesehen, wie du deine Gesundheit, auch wenn sie dir schon beinahe genommen wurde, immer weiter aktiv zerstört hast. Ich habe dich weinen, schreien, lachen, tanzen, beinahe leblos gesehen. Ich habe dich gesehen, als du am Höhepunkt warst, und ich habe dich an jedem Tiefpunkt gesehen. Seit du auf dieser Welt bist, war ich immer bei dir. Doch ich und meine Macht sind genauso wie du älter, weiser, aber auch immer wieder machtloser geworden. Ich kann dich nicht alleine retten, konnte ich nie und werde ich nie können. Das Einzige, was ich machen kann, ist, dir eine Hand zu reichen und dich auch, wenn es unmöglich zu sein scheint, zu versuchen, in die richtige Richtung zu ziehen. Doch wenn du dich mit den dunklen Seiten gegen mich verbündest, bleibe auch ich machtlos und muss still zuschauen, wie du dich selbst immer weiter und weiter in den Abgrund ziehst, mit mir an dich gebunden. Nichtsdestotrotz bleibt es deine Entscheidung, jeden Tag aufs Neue: für oder gegen das Leben, für oder gegen dich, für oder gegen mich, das liegt bei dir. Aber egal, was passiert, das ist meine Aufgabe, meine Existenz. Und dir muss bewusst sein, dass du mir allein durch deinen Willen meine Stimme nehmen oder geben kannst. Meine Worte ändern wirst du nie können, du kannst nur entscheiden, wie laut du sie hörst.




Emilia Walder







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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