Janice Seidel für #kkl48 „Vernunft“
„Sei doch mal vernünftig.“ Diesen Satz haben wahrscheinlich einige von euch schonmal gehört. Vernunft beschreibt laut dem Duden ein „geistiges Vermögen des Menschen, Einsichten zu gewinnen, Zusammenhänge zu erkennen, etwas zu überschauen, sich ein Urteil zu bilden und sich in seinem Handeln danach zu richten“. Doch ist das wirklich das, was Menschen meinen, wenn sie dir zur Vernunft raten? Wollen sie wirklich, dass du dir dein eigenes Urteil machst und danach handelst? „Sei doch vernünftig“, sagt Sandras Mutter, als diese ihr eröffnet, dass sie ihr trockenes Jurastudium abbrechen und stattdessen lieber eine Ausbildung zur Maskenbildnerin starten möchte. „Sei doch vernünftig“, sagt Sandras Mutter und eine angesehene Anwältin, aber genau das war Sandra doch. Sie hat eingesehen, dass ihr das Jurastudium trotz aller Bemühungen keinen Spaß macht und sie in diesem Beruf nie Freude finden würde. Der Job würde einen Großteil ihres Lebens einnehmen und ihr Leben dadurch größtenteils freudlos sein. Das konnte sie nicht zulassen. Und da sie schon immer gerne das Theater mochte und an der Kunst viel Spaß hat, tat sie das für sich Sinnvollste. Einen Wechsel in ihrer Berufslaufbahn. Alles in allem eine vernünftige Entscheidung. Aber warum sieht Sandras Mutter das dann nicht? Was meint sie, wenn sie immer wieder an die Vernunft appelliert? Sie meint ihre eigene. Warum denkst du nicht so wie ich? So würde ich niemals handeln. Das wäre ja ganz unvernünftig. Ein kreativer Beruf zur heutigen Zeit? Wo ist denn da die finanzielle Sicherheit? Nein, das ist vollkommen unvernünftig. Sie meint ihre eigene Vernunft. Denn was ist schon die Vernunft? Was der eine unvernünftig findet, ist für den anderen an Vernunft nicht zu übertreffen und umgekehrt. Denn eigentlich gibt es sie gar nicht, die Vernunft. Sie ist nur das, was jeder Mensch individuell nutzt, um seine Entscheidungen zu begründen. Sie ist nur ein Wort, das uns dazu bringt, ein bisschen mehr zu denken. Von daher: Sei vernünftig! Oder sei es halt nicht. Hauptsache, du verpasst vor lauter Denken das Leben nicht.
Schmale Silberstäbe
Eng zusammen gereiht
Bilden heimlich einen Käfig
Aus dem sich keiner leicht befreit
Befreiung wäre anders denken
Anders denken als gewünscht
Gewünschtes Handeln unterlassen
„Die Fassade ist jetzt bunt getüncht“
Doch im Käfig gibt es
Keine Farbe und keinen Spaß
Getarnt im Namen der Vernunft
Machen wir Ernsthaftigkeit zum Maß
Janice Seidel ist eine junge Studentin der Kultur- und Medienwissenschaft aus Berlin. Sie schreibt gerne Kurzgeschichten und andere Texte, hat davon bisher aber nie etwas veröffentlicht.
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