Brachland, versumpft – danke, (Un)vernunft!

Katja Wilhelm für #kkl48 „Vernunft“




Brachland, versumpft – danke, (Un)vernunft!

Schaut man sich derzeit die Lage der Welt an: Man könnte glatt auf die Idee kommen, alle Klügeren weltweit hätten zeitgleich nachgegeben. Dabei wird uns dieser Irrsinn schon seit Kindertagen als die Lösung schlechthin verkauft: Die/Der Klügere gibt nach. Und wer will schon dumm dastehen, wenn alles, was man für einen Moment des Ruhms tun muss, einlenken und einknicken ist? Nachgeben ist nicht schwer. Einmal nur schnell über den eigenen Schatten springen und maximal den persönlichen Stolz und das Ego in den Schmollwinkel parken: Schon klappt’s auch mit dem Nachgeben. Ich weiß, wovon ich schreibe. Ich bin sozusagen die ungekrönte Königin des Nachgebens. Vernunft ist – so gesehen – mein zweiter Vorname. Das hat mich weder besonders erfolgreich noch besonders glücklich gemacht, weshalb ich irgendwann damit begonnen habe, die Unvernünftige in mir von der Kette zu lassen. Damit gerasselt und gedroht hat dieser magere kleine Troll schon lange. Er wurde nur nie gefüttert. Dabei  gab es unzählige Situationen in meinem Leben, wo ich dem unausgesprochenen Handlungsimperativ „Sei vernünftig! Die Klügere gibt nach!“ artig Folge geleistet habe. Innerhalb der Familie zum Beispiel. Um des lieben Friedens willen – wie meine Mutter das immer genannt hat. Jetzt haben wir genau mit diesem Familienmitglied seit zwei Jahren Funkstille. Weil ich nie den Mund aufgemacht habe. Und nie protestiert habe gegen ein Weltbild und einen Tunnelblick, der ein vollkommen falsches Bild auf die weiße Leinwand einer vorgefassten und in Stein gemeißelten Meinung projiziert hat. Meine Goldmedaille in Sachen „Vernunft“ habe ich mir jedoch in all den Jahren als brave Angestellte verdient. Gewonnen habe ich nichts, außer ein paar Erkenntnisse. Und für die ist es ja bekanntlich nie zu spät. Zusammenfassend kann man sagen, dass weder narzisstische Vorgesetzte noch toxische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter  oder solche, die dumm wie die Nacht finster waren, mich gebrochen hatten. Wer nachgibt, bleibt biegsam. Ein Weidenzweig bricht nicht, auch nicht im stärksten Sturm. Man kann sich denken, was man möchte. Nur laut aussprechen sollte man manche Dinge besser nicht. Es lohnt sich, vorab zu testen, ob man die eigene Vernunft nicht lieber hütet wie einen Schatz, als sie wie Perlen vor die Säue zu werfen. Hätte ich manchmal gerne protestiert? Ja, sicher. Etwa, wenn die hochnotgeizige Bossin einem Mitarbeiter die Übernachtung aus seiner Reisekostenabrechnung streicht. Und wenn das Argument, er sei krebskrank und schaffe die lange Reise nicht ohne Zwischenstopp, mit einem: „Das ist sein Problem, nicht meines“ vom Tisch gefegt wird. Oder wenn eine andere Vorgesetzte (Dunkle Triade Typ „Machiavelli“) eine neue Mitarbeiterin ohne Hearing oder langwieriges Auswahlverfahren aus dem Hut zaubert und Stein und Bein schwört, sie nicht zu kennen, obwohl auf dem Dienstzeugnis ihres letzten Arbeitgebers, der zufällig auch der letzte Arbeitgeber besagter Vorgesetzter war, deren Unterschrift prangt. Nein. Natürlich sage ich da nichts. Oder dass man ausgerechnet mich an einem Freitagnachmittag zum Kaffeekochen für ein Gremium abbestellt, dem man eine aberwitzige Summe für ein aberwitziges Projekt abschwatzen will. Ich, die Promovierte, bleibe gerne und serviere Käffchen mit Milch und Zucker. Und nein: Cappuccino haben wir leider nicht. Darf es stattdessen vielleicht eine Niere oder mein Erstgeborener sein? Meine Selbstachtung vielleicht? Aber wer sagt schon: „Kocht euch euren dämlichen Kaffee selbst!“? Und gefährdet damit einen sicheren Job. Einen, der buchstäblich und in jeder Hinsicht tod-sicher ist noch dazu. Arbeiten am Brückentag? Kein Problem! Die Kinderlose ist zweifellos am qualifiziertesten dafür. Hat ja kein Leben, die Arme, so ganz ohne Kinder. Und weiter geht die wilde Jagd:  Allein zwischen den Feiertagen im ungeheizten Büro die Stellung halten? Natürlich! Meinen Urlaub an die Wünsche von allen (!) anderen anpassen und am besten gar nicht nehmen? Why not! Die Vernunft sagt brav „Ja und Amen“ zu all diesen Zumutungen. Aber sie macht noch mehr mit mir. Sie verkauft mir unbezahlte Mehrarbeit als Beförderung und konsequente Nörgelei als konstruktives Feedback. Sie entzündet ein Freudenfeuer in mir, wenn ich einmal nach meiner Meinung gefragt werde und kapiert nicht, dass diese gar nicht gewünscht ist. Beispiel gefällig? Unsere überbezahlte Grafikerin (das Gewinnen von einem Kunstpreis alle heiligen Zeiten reicht vollkommen aus, um bis in alle Ewigkeit überzogene Forderungen zu rechtfertigen) sollte Flügelmappen entwerfen. Unser Logo war Orange. Die Flügelmappen waren – man ahnt es schon – Orange. Und zwar ausschließlich. Als ein anderer Chef (Modell „Jung, erfolgshungrig und rücksichtslos“) mich nach meiner Meinung dazu fragte, war ich ausnahmsweise einmal nicht vernünftig, sondern ehrlich. Innerlich platzte mir sogar der Kragen. Dieses Äußern meiner Meinung bekam mir natürlich ganz und gar nicht. Ab diesem Zeitpunkt, wo ich das unverfrorene Machwerk mit den Worten: „Sie ist Orange – und weiter?“, abqualifizierte, passierte mit mir dasselbe. Ich war angezählt. Und schlimmer noch: Sogar diese Arbeit hatte ich ihnen abgenommen. Allerdings war es rückblickend auch das Beste, was mir passieren konnte. Und diese Wechselwirkung zeigte sich jedes einzelne der wenigen Male, wo ich die Vernunft auf die billigen Plätze verwiesen habe. Immer dann, wenn ich die Unvernunft an den Start schickte in meinem Leben, war mir ein Platz auf dem Podest der Sieger gewiss. Die Vernunft baute mir Gefängnisse aus Sicherheit, in denen ich mich jedes Mal früher oder später am liebsten nach guter alter Häftlingsmanier mit meinen Schnürsenkeln erhängt oder mir mit der Scherbe einer Fliese oder der Kanüle eines Kugelschreibers die Pulsadern aufgeschnitten hätte. Und ich wünschte, ich könnte behaupten, das sei nur narrative Übertreibung. Die Unvernunft hat mich den letzten Zug verpassen lassen und mir so einige der lustigsten Nächte aller Zeiten beschert. Die Unvernunft hat mich alle Brücken hinter mir verbrennen lassen und mir eine Zukunft verehrt, von der ich nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Sie lässt mich finanziell ausbluten, aber jeder Tropfen davon, der auf den Boden der nackten Tatsachen fällt, nährt meine Lebensqualität und befeuert eine unbändige Freude in mir, an diesem Leben zu sein. Vernunft reimt sich nicht zufällig auf „versumpft“. Dank ihr liegt alles Schöne brach, aber Hauptsache, der Klügere gibt nach.




Katja Wilhelm, Jahrgang 1975, studierte Klassische Archäologie und Ur- und Frühgeschichte an der Universität Innsbruck. Nach ihrem Abschluss war sie beruflich in verschiedenen akademischen Bereichen tätig. Seit 2021 lebt und arbeitet sie hauptberuflich als freie Texterin und Autorin in der Nähe von Innsbruck. Sie ist Mitglied der „Mörderischen Schwestern“ und hat bislang drei Kriminalromane, eine Erzählung und einen Essayband veröffentlicht.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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