Mittwochskaffee

Xaver Egert für #kkl48 „Vernunft“




Mittwochskaffee

Die Schreie hallten über die Straße. Ein Passant zuckte zusammen. Die beiden stritten. Wie jeden Mittwoch.

Der alte Mann schmunzelte und faltete seine Zeitung auf. Worüber sich das Ehepaar (er vermutete, dass es sich um ein Ehepaar handelte) stritt, wurde aus den paar Wortfetzen, die durch das geöffnete Fenster in der Wohnung im ersten Stock in der Häuserzeile gegenüber ins Freie entflohen, nicht genau ersichtlich. Klar war nur, dass die beiden sich jeden Mittwoch um dieselbe Zeit stritten. Das konnte man freilich nur dann wissen, wenn man sich, wie der alte Mann, jeden Mittwoch zur selben Zeit in der unmittelbaren Umgebung befand. Manchmal fragte sich der alte Mann, ob den beiden selbst bewusst war, dass sie immer zur selben Zeit stritten.

Er blickte auf die Buchstaben seiner Zeitung, ohne sie zu lesen. Er hätte natürlich auch eine andere, eine ruhigere Zeit auswählen können, um seinen Vormittagskaffee in seinem Lieblingscafé einzunehmen. Doch er kam jeden Tag um dieselbe Zeit hierher. Und er sah es nicht ein, diese Routine wegen einem zankenden Ehepaar abzuändern, das wiederum seinerseits an seiner Streit-Routine eisern festhielt. Wenn schon – so sah es das der alte Mann – sollte doch das Ehepaar bitteschön seine Routine ändern und zu einem anderen Zeitpunkt die Straße mit ihren Schimpftriaden fluten. Er, der alte Mann, würde solange standhaft bleiben. Manchmal fragte er sich, ob er den beiden einen anonymen Brief einwerfen sollte, dass man ihre Streitereien immer durch das offene Fenster auf der Straße hören konnte. Doch so viel Mühe war ihm die Sache nicht wert. Das Ganze war wie eine lästige Fliege, die aber nicht lästig genug war, um zur Fliegenklatsche zu greifen.

Der alte Mann blickte auf die Uhr. In circa fünf Minuten würden die beiden eh aufhören. Es war Wissen wie dieses, das man sich nur dadurch aneignen konnte, indem man viel Zeit bewusst an demselben Ort verbrachte. Zu dieser Art von Wissen zähle auch, dass der alte Mann beim Nippen an seinem Cappuccino sofort bemerkte, dass er anders als sonst schmeckte. Das Café hatte einen offenbar einen neuen Mitarbeiter. Der alte Mann verzog das Gesicht. Zu viel Milch für seinen Geschmack. Na ja, der würde sich schon noch einarbeiten. Geduld, das war das Stichwort. Und Geduld hatte er sich seit seiner Rente mit Erfolg angeeignet. Davor war sein Leben immer hastig und schnell verlaufen, wie ein Wasserfall. Heute plätscherte es eher wie ein ruhiger Bach stetig vor sich hin.

Er richtete seinen Blick von seiner Uhr wieder auf die Zeitung. Und wieder, ohne sie zu lesen. Er war in Gedanken bei dem Vortrag, den er gestern gehört hatte. Ein offener Vortrag an der Universität über Emotionen. Der alte Mann besuchte derartige Veranstaltungen gerne. Sie halfen ihm, seine freie Zeit mit etwas zu füllen, das sich einerseits nicht nach Verschwendung derselben anfühlte und was ihn andererseits interessierte. Gerade der Vortrag zum Thema Emotionen hatte ihn interessiert, weil er von einem Psychologieprofessor gehalten worden war und der alte Mann damals in seiner Jugend selbst gerne Psychologie studiert hätte.

Doch sein Vater hatte damals darauf bestanden, dass er etwas „Vernünftiges“ studierte. Vernünftig – das hieß für den Vater des alten Mannes etwas, das sich in einen greifbaren monetären Wert umwandeln ließe. Der menschliche Geist war ihm dabei scheinbar nicht greifbar genug gewesen. So kam es, dass der alte Mann gezwungenermaßen Chemie studierte. Für die Chemie hatte er zwar hinreichendes Talent, allerdings keinerlei Neigung. In den darauffolgenden Jahrzehnten arbeitete er bei diversen Chemiekonzernen, bis zur Rente. Er verdiente nicht schlecht. Er hatte, wie sein Vater sagen würde, ein „vernünftiges“ Leben geführt.

Seltsam jedoch, dass sich dieses Leben immer ein wenig verschwendet angefühlt hatte. Dem Anspruch seines Vaters, ein „vernünftiges“ Leben zu führen, wurde er gerecht. Doch am eigenen Anspruch, in diesem vernünftigen Leben Glück zu finden, scheiterte er.

Während er mit leerem Blick auf seine Zeitung stierte, dachte er darüber nach, dass er von dem Vortrag kaum etwas mitgenommen hatte. Denn er hatte die ganze Zeit, als er diesem jungen Professor, der noch keine vierzig gewesen war, zugehört hatte, darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, wenn er dort oben stehen würde. Vielleicht könnte er auch heute noch Vorträge halten, wenn er Psychologie studiert hätte. Das wusste der alte Mann freilich nicht mit Sicherheit. Er wusste auch nicht, in welchen Berufsfeldern Psychologen insgesamt arbeiteten. Sein Traumstudium war so früh von seinem Vater gesprengt worden, dass sich daraus nie konkrete Ideen entwickelt hatten.

Nur ein Satz hing dem alten Mann immer noch im Kopf fest: Hinter jeder Emotion steht ein Bedürfnis. Ein bemerkenswerter Satz. Er stand geradezu quer zu dem Weltbild seines Vaters. Ihm zufolge waren Emotionen eine Ausgeburt der Unvernunft und mussten als solche unterdrückt werden. Ganze Generationen waren so erzogen worden, bis heute. Und Teile dieser Generationen fragten sich immer wieder, ob das die ganze Wahrheit war. Oder war es nicht eher unvernünftig, nicht auf die eigenen Emotionen zu hören? Wenn sie doch, wie der Professor gestern betont hatte, die eigenen Bedürfnisse kommunizieren?

Wenn der alte Mann an seinen Berufsalltag zurückdachte, so stellte er fest, dass seine Emotionen zumeist negativ gefärbt gewesen waren. Doch er war „vernünftig“ geblieben und hatte sie heruntergeschluckt. Heute fragte er sich erstmals, ob er damit einen Fehler begangen hatte. Wenn er damals auf seine Emotionen gehört hätte – wäre er dann heute glücklich?

Es war das Dilemma des Alterns. Während man jung war, hatte man kaum Zeit, über sich selbst und seine Lebenssituation zu reflektieren. Man war beschäftigt, von einem Ort zum anderen zu springen und Hürde um Hürde zu überwinden. Wenn man alt war, hatte man diese Zeit dafür umso mehr – nur, um sich all die vielen Fehler eingestehen zu müssen, die einem im Laufe des Lebens unterlaufen waren. Einer dieser Fehler war es wohl, dass der alte Mann nie darüber nachgedacht hatte, wie sehr die Erziehung und das Weltbild seines Vaters sein Leben beeinflusst hatten. Er hatte sein Leben im Zeichen eiserner Vernunft gelebt – und dabei diese leere Worthülse mit einer Definition eines anderen gefüllt, anstatt seine eigene dafür zu finden.

Das Geschrei von der anderen Straßenseite erstarb. Der alte Mann blickte auf seine Uhr. Die fünf Minuten waren vorbei. Das Paar hatte genau so lange gestritten wie sonst auch. Ob das wohl ein Zeichen dafür war, dass ihre Beziehung intakt war?

Der alte Mann faltete seine Zeitung, die er nie gelesen hatte, zusammen, nippte an seinem zu milchigen Cappuccino und ließ den Blick über die fast leeren Gehwege streifen. Er hätte zufrieden sein können, wie er hier vor seinem Lieblingscafé saß. Es war Werktag, nur wenige sonst hatten das Privileg, an einem schönen Vormittag wie diesem draußen an einem Tisch Cappuccino zu trinken. Und doch fühlte er Unwillen. Anstatt das Gefühl wie üblich beiseitezuschieben, fühlte er vorsichtig in sich hinein. Warum fühlte er sich, wie er sich gerade fühlte?

Schließlich kam er zu dem Schluss, dass er von seiner täglichen Routine selbst genervt war. Selbst er hatte etwas besseres zu tun, als sich an einem Mittwochvormittag den Streit eines Ehepaars anhören zu müssen, das ihn nicht interessierte. Er blickte auf die Uhr. Für gewöhnlich würde er noch eine Viertelstunde hier sitzenbleiben. Doch heute war nicht gewöhnlich. Er trank den Cappuccino in einem Zug leer, ging ins Café, bezahlte und ging. Wohin genau, dessen war er sich noch nicht bewusst. Er würde sich treiben lassen. Doch eins war sicher: Nächste Woche würde er zu einer anderen Zeit hierherkommen.




Xaver Egert, geboren 2004, studiert Psychologie in München. Er ist interessiert an Psychologie, Literatur, Politik und Umweltschutz. Er ist Mitautor des Klimanewsletters der Gemeinde Unterhaching bei München und hofft, mal ein eigenes Buch zu veröffentlichen.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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