Martin A. Völker für #kkl48 „Vernunft“
Schlaf, Menschlein, schlaf
Die Welt ist voller Unvernunft. So scheint es zumindest. Sicher kannst du nicht sein, weil es immer wieder Momente gibt, in denen du denkst, dass alles sogar noch schlimmer sein könnte. Streng genommen ist es gar nicht die Welt, die voller Unvernunft ist, sie ist voller Menschen, die unvernünftig sind. Ohne menschliches Zutun wäre die Welt ein liebenswerter Ort. Menschen stellen die unvernünftige Begleiterscheinung der Welt dar. Das zu erkennen, ist vielleicht schon als ein Schritt auf dem Weg zum Vernünftigwerden zu bewerten. Betrachte aber die Vernunft mit Vorsicht. Sie ist nicht das, was die Philosophen glauben, weil eben daraus jene Probleme entstanden, unter denen wir zu leiden haben. Vernunft, so fabeln sie, sei jenes ausschließlich menschliche Vermögen, das unabhängig von der Welt Schlüsse zieht, das Zusammenhänge und Ordnung herstellt, wo in der Welt bloß das Chaos herrscht. Vernunft sei das Vermögen, welches uns zweckvoll handeln lässt. Stelle dir die Vernunft in dieser Hinsicht als eine riesenhafte Machete vor, die den Wildwuchs in der Welt beendet, um Lichtungen zu schaffen, auf denen Häuser mit Schottergärten, Straßen, Parkplätze und Einkaufszentren gebaut werden können. Dass dem Gebrauch dieser Machete nicht nur Sträucher, sondern auch Tiere und Menschen zum Opfer fallen, wird billigend in Kauf genommen. Die Umsetzung dieses Tabula-rasa-Prinzips führt zu Hegels Maxime: „Was vernünftig ist, das ist wirklich.“ In Wahrheit bedeutet dies, dass wir das, was wir für vernünftig hielten, zur Wirklichkeit gemacht haben, zu einer Wirklichkeit, auf die die Weltnatur, in die wir hineingeboren wurden, selbst nicht gekommen wäre. Niemals wäre sie darauf gekommen, weil sie dumm ist, wir halten die Weltnatur für dumm und dumpf und rein objekthaft. Die Aufgabe des vernünftigen Bewusstseins besteht darin, das Unbewusste und Sich-selbst-nicht-Bewusste zu korrigieren, zu dominieren und fortzuschaffen, wenn es sich nach Maßgabe der Vernunft nicht domestizieren lässt. Ironischerweise trägt diese Vernunft den Keim der Unvernunft in sich, weil sie im Außen zerstört, und die äußere Zerstörung zurückwirkt auf jene, die sie bewirkt haben. Es fällt dem Menschen schwer, das einzusehen, weil er ein Stück weit unmenschlich sein müsste, von sich abrücken müsste, von der Weltnatur aus sich selbst betrachten müsste, um Hegel eine ganz andere Einschätzung entgegenzuhalten, nämlich: „Was vernünftig ist, das ist wirklich zerstört.“ Die Vernunft ist der Elefant im Porzellanladen der Welt, weil sie sich der Übereinstimmung und Abstimmung mit den Weltgesetzen und jenen Gesetzen, die zum bunten Wildwuchs und Überleben in der Natur führen, verweigert und so zur Unvernunft verkommt. Du fragst mich, ob es eine andere Vernunft gibt, eine solche, die nicht in Unvernunft abgleitet. Ja, die gibt es. Francisco de Goya hat sie bildkünstlerisch beschrieben, obwohl er etwas ganz anderes im Sinn hatte. Es ist die schlafende Vernunft, welche die Fehler der wachen Vernunft vermeidet. Goyas Radierung, das 43. Bild seiner Reihe „Los Caprichos“, zeigt, dass der Schlaf der Vernunft Ungeheuer hervorbringt. Welche Ungeheuer meint Goya, was stellt er dar? Eulen, Fledermäuse und Katzen sind solche Ungeheuer. Heute würde man sich glücklich schätzen, Eulen, Fledermäuse und Luchse in größerer Zahl in der freien Natur anzutreffen. Was folgt daraus? Die schlafende Vernunft ist die bessere Vernunft. Die schlafende Vernunft ist keine überwache und überkontrollierende Instanz, die angstvoll alles Fremde auslöscht. Der Traum tut das, was sonst niemand kann oder will, er sagt dir die Wahrheit. Im Traum wächst die schlafende Vernunft über sich hinaus, wächst allerdings nie über die Welt hinaus, die sie beschützen und bewahren muss, um zu überleben. Im Traum sieht die schlafende Vernunft Ungeheuer, die in Wirklichkeit keine sind, sondern lediglich als solche erscheinen, weil sie lange unbeachtet blieben. Im Traum lernt die Vernunft, sich mit ihren Ängsten und Sehnsüchten zu beschäftigen. Auf diese Weise wird sie zu einer vorbehaltlichen Vernunft. Sie lässt das zu, was sie selbst nicht ist oder sein kann. Die schlafende, die vorbehaltliche Vernunft lässt die Machete fallen und umarmt das, was sie im Wachzustand umbringen würde. Du verstehst mich richtig, wenn du den heilsamen Schlaf der Vernunft nicht mit Powernapping verwechselst.

Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Dozent, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.
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