Kerstin Riechert für #kkl48 „Vernunft“
Frauenpower
Sie war ein gescheites Mädchen, sollte auf die höhere Schule gehen, sagte die Lehrerin. Oh, Lieselotte wäre gern gegangen. Sie lernte gern.
Auf die höhere Schule? Ein Mädchen? Der Vater schüttelte den Kopf.
„Rausgeworfenes Geld! Du heiratest doch sowieso einmal.“
Die Mutter stimmte ihm bei:
„Dein Vater hat recht. Natürlich freuen wir uns, dass du gute Noten hast. Trotzdem: So lange zur Schule gehen und zum Schluss brauchst du es doch nicht. Mach eine Lehre. Es wird Zeit, dass du Geld nach Hause bringst. Vielleicht können wir dann den Achim studieren lassen. Sei vernünftig, Kind.“
Sie war vernünftig gewesen und hatte eine Ausbildung zur Bürokraft begonnen. Es schmeckte bitter, dass ihr jüngerer Bruder Achim, der gar nicht gern lernte, fast gegen seinen Willen auf eine höhere Schule gehen sollte, sie dagegen nicht weiter lernen durfte. Aber Lieselotte war vernünftig und fügte sich.
Sie fand eine Anstellung in einem Reisebüro. Wie gerne hätte sie wenigstens eine der Reisen, die sie Tag für Tag verkaufte auch einmal selbst gemacht. Doch das kam nicht in Frage. Es hieß sparsam sein, schließlich brauchte die Familie ihr Einkommen. Die Schulbücher waren teuer und nun besuchte auch Rolf, der Jüngste, das Gymnasium.
Dann lernte sie Fred kennen. Fred mit den blitzenden Augen, Fred mit der verwegenen Haartolle, Fred mit dem unwiderstehlichen Lachen, der eines Tages in ihrem Reisebüro stand. Fred, der nach seiner Romreise wieder ins Reisebüro kam, sich für die hervorragende Beratung bedankte und fragte, ob er das Fräulein in das neue italienische Eiscafé am Marktplatz ausführen durfte. Er durfte und Lieselotte, die Fred chic „Lilo“ nannte, schwebte im 7. Himmel. Oh, was war sie verliebt!
Als Lilo merkte, dass sie ein Kind erwartete, war Freds Lachen schlagartig verschwunden: Wie sie sich das vorstelle – er baue sich seine Karriere gerade auf, eine Familie sei da noch nicht vorgesehen, ja, schlicht unmöglich. Später vielleicht. Aber jetzt? Ausgeschlossen. Sie solle vernünftig sein, er würde ihr helfen.
Die Mutter schüttelte den Kopf, was hatte sie da nur wieder angestellt! Und nun? Was sollte nun werden? Helfen, dieser Luftikus? Kam gar nicht in Frage, den sah sie nie wieder, bestimmte der Vater. Eine ledige Mutter? Und wo, bitte schön, wollte sie das Kleine lassen, wenn sie arbeitete? Oder wollte sie etwa mit samt dem Kind den Eltern auf der Tasche zu liegen? Und was war mit der Ausbildung ihrer Brüder?
„Sei vernünftig“, beschworen die Eltern sie.
Lilo war vernünftig. Sie wusste ja auch keinen anderen Ausweg. Das kleine Mädchen bekam sie nie zu Gesicht, wer seine neuen Eltern waren, wusste sie nicht. Sie hoffte, dass ihre Kleine es gut getroffen hatte. Sicher war es am besten so. Die Eltern wollten nur ihr Bestes. Von den Männern hatte sie genug. Daheim wurde sie wieder Lieselotte, obwohl sie bat, sie Lilo zu nennen. Sonntags spazierte sie durch den Park, überlegte, in welchem der Kinderwagen wohl ihre Kleine geschoben wurde. Ach, vielleicht in gar keinem. Vielleicht war sie in einer ganz anderen Stadt.
Die Jahre verstrichen. Lilo war tüchtig und sparsam. Ihre kleine Wohnung war der einzige Luxus, den sie sich gönnte. Die Miete war überdies erschwinglich. Viel durfte sie auch nicht kosten. Wie selbstverständlich unterstützte Lilo die Familie: Die Ausbildung ihrer jüngeren Brüder Achim und Rolf. Die teuren Fachbücher. Die Studentenbuden der beiden. Irgendjemand brauchte immer etwas: Mal benötigte Achim Geld für den Führerschein, dann war es Rolf – schließlich mussten die Männer Auto fahren können. Auch als Achim längst auf eigenen Füßen stand, war Lilo gefragt: Er wollte ein Autohaus eröffnen. Eine einmalige Gelegenheit. Nur ein wenig Startkapital bräuchte er, ob Lilo helfen konnte? Das war billiger als bei der Bank, da zahlte man ja unglaubliche Zinsen. Und Lilo half. Sie half, als das Autohaus in die Krise kam und eine Finanzspritze brauchte. Sie half, als sie, selbst längst im Ruhestand, von ihrem Neffen Jörg gebraucht wurde, weil Achim, sein Vater, nach einem Schlaganfall bettlägerig und pflegebedürftig war.
Es war ein regnerischer Junitag, als Lilo, nachdem sie von der Pflege ihres Bruders in ihre kleine Wohnung zurückkehrte, einen Brief in der Post fand, mit dem sie niemals gerechnet hatte. Sie hatte gewonnen. Zwar hatte sie regelmäßig die Lösungswörter der ausgefüllten Kreuzworträtsel eingesandt, aber noch nie, wirklich noch nie hatte sie auch nur die kleinste Kleinigkeit gewonnen. Bis heute. Sie konnte es kaum fassen. Sie hatte tatsächlich gewonnen. Den ersten Preis: Eine Kreuzfahrt! Die hatte sie sich ihr Leben lang gewünscht.
„Eine Kreuzfahrt? In deinem Alter?! So eine Strapaze willst du dir antun? Wie soll das gehen? Du sprichst nicht ein Wort Englisch, Tante Lieselotte!“, hatte ihr Neffe Jörg ausgerufen.
„Die Reiseleitung spricht Deutsch.“ Lilo tippte auf die Stelle in den Reiseunterlagen.
„Und“, sie konnte selbst kaum glauben, dass dieser Satz aus ihrem Mund kam, „wenn ich rüstig genug bin, meinen jüngeren Bruder zu pflegen, dann bin ich ja wohl auch rüstig genug für eine Urlaubsreise.“
Ihre Großnichte, Kathi, grinste von einem Ohr bis zum anderen:
„Richtig so, Tante Lilo! Lass dich bloß nicht von Papa bequatschen. Du fährst. Das ist doch super.“
Sie nickte energisch und ihre grüne Haarsträhne nickte mit, als gäbe sie Lilo grünes Licht.
„Das ist überhaupt nicht super“, brauste Jörg auf.
„Du weißt genau, dass Opa Pflege braucht. Wer soll sich in der Zeit um deinen Großvater kümmern?“
„Mama? Du?“, fragte Kathi spitz und fügte hinzu:
„Es geht um drei Wochen, Paps. Drei Wochen in denen Tante Lilo mal Urlaub machen möchte. Das wird ja wohl möglich sein.“
Lilo starrte ihre Großnichte an. Dieses junge Ding war vielleicht resolut. Das hätte sie sich nie getraut. In Kathis Alter schon gar nicht. Aber irgendwie gar nicht so schlecht, dass das Mädel seine Meinung vertrat. Lilo kam ins Grübeln.
„Mama und ich sind im Autohaus nicht abkömmlich“, fertigte Jörg seine Tochter ab.
Die zuckte unbeeindruckt mit den Achseln:
„Dann gebt ihr ihn halt in Kurzzeitpflege.“
Und zu Lilo gewandt:
„Selbstverständlich fährst du, Tante Lilo. Hör nicht auf Papa.“
„Sei doch vernünftig, Tante Lieselotte!“, rief Jörg.
Aber irgendein Funke schien von der Großnichte auf die Großtante übergesprungen zu sein.
Leise, aber bestimmt sagte Lilo:
„Ich fahre. Und im Übrigen möchte ich Lilo genannt werden, das weißt du genau, Jörg.“
Nun stand sie an der Reling, ihr rosenroter Seidenschal, ein Geschenk von Kathi, der sich übermütig von ihrem beigen Ensemble abhob, flatterte lustig im Wind.
Sie nippte an dem Glas Sekt, das ihr der Steward gereicht hatte. Sie legten ab.
Sie war noch nie in ihrem Leben so herrlich unvernünftig gewesen.
Sie war noch nie so vernünftig gewesen.
Kerstin Riechert lebt in Nürnberg. Sie hat Neuere deutsche Literaturwissenschaft studiert und arbeitet als Technische Redakteurin. In ihrer Freizeit widmet sie sich dem Schreiben und dem Malen.
Mehrere Texte von ihr wurden veröffentlicht, zuletzt
„Winnie“ in „Stein – Geschichten und Bilder“, Sebastian von Bomhard (Hrsg.), 2024.
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