Corie Fee für #kkl48 „Vernunft“
FLIEG, MEIN VOGEL – FLIEG HOCH !
Er sah sie innerlich seufzend an. Ein nahbares Lächeln auf den Lippen, waren seine Gedanken in weiter Ferne. Er blickte sie unverwandt an, so wie sie dastand. Mit leuchtenden Augen und großen Gesten, übersprudelnd vor Geschichten und vor Erlebnissen. Ihr Mund bewegte sich, die Lippen gingen auf und nieder. Diese schönen Lippen, in kräftig roter Farbe, voller Schwung und Schmackes – dem Geschmack nach Rosen. Sie stand in voller Blüte, und das Besondere an diesem Geschöpf war: Sie mochte ihn. Sie liebte ihn. Aus irgendeinem Grund – hatte er es verdient? – hatte sie sich ihm angeschlossen. War ein Teil seines Lebens geworden. Der schönste Teil, musste er sich eingestehen.
Ja, sie erst hatte die Schönheit in sein altes Leben getragen. Sie, die zu jeder Stunde, in jeder Minute, in jeder Sekunde, einen bezaubernden Anblick bot. Die sich ihre Gewänder gewandt auswählte, sich elegant den Schmuck an die Ohren und an die Arme legte. Die ihre Haare bürstete und striegelte, bis sie glänzten, und sie dann, immer wieder faszinierend beiläufig, zu einer Rolle aufdrehte, eine Art schimmerndes Nest aus ihr machte und sie mit einer Spange zauberhaft auf dem Kopf festklemmte. Sie brauchte dafür keinen Spiegel, es gelang ihr beklemmend unverklemmt. Nun stand sie mit ebendiesem goldenen Nest vor ihm und erzählte von ihrem Tag – voll vom Zauber der Jugend.
Es musste eine packende Geschichte sein. Er lächelte. Diese schnellen Worte, diese Begeisterung und Leidenschaft für die kleinsten Details. Stundenlang konnte er ihr zuhören. Beziehungsweise ihr zuschauen. Wie immer war er abgelenkt. Er sah sie sprechen, hörte ihre Worte, nickte hin und wieder, brummelte unterstützend, doch sah er sie nur von außen. Zu goldig war ihr Anblick, um jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Sie beherrschte das Gespräch – er kannte seine Einsätze. Er sah ihr an, wann er zu schauen, zu staunen, zu lächeln hatte. Und konnte so in aller Ruhe seinen Gedanken nachhängen.
Sie hatte alles Glück dieser Erde verdient. Sie gab so viel. Sie nahm auch viel. Das jedoch in für ihn belanglosem Ausmaß. Materielle Dinge, Geld, Schmuck. Was bedeutete das schon? In ihrem Alter war das vielleicht etwas wert. Früher, ja früher, hatte er auch so gedacht. Doch Träume werden zu Schulden, in dem Moment, wo man sie erreicht: Er hatte sich traumhaft verschuldet.
Er saß nun hier, hoch oben am See in einem großen Haus, vier Autos in der Garage, Einladungen zu bedeutsamen Treffen, Lions Club und Co. Doch das Einzige, was ihm etwas bedeutete, war die Freiheit – seine, und ihre. Gedankenverloren blickte er sie an. Er wusste, dass sie ihn auf ihre Art liebte und ihn sofort heiraten würde, würde er sie nur fragen. Sie würde ihm um den Hals fallen, strahlen wie die Sonne, und ihn abküssen.
Ein paar Mal schon war er fast der Versuchung unterlegen, sie zu fragen. Immer dann, wenn dunklere Momente in ihr Leben traten, die Strahlkraft abnahm. Um die Sonne wieder anzuknipsen, wäre die Frage ein verlässlicher Schalter. Doch tat er es nicht. Die Freiheit, so hatte er es mit den Jahren gelernt, war fraglos das höchste Gut. Bindungen an Dinge, an andere, ließen einen früher oder später unglücklich werden.
Er war sehr entschieden. Er hatte das alles durch. Scheidungen. Kinder großziehen. Karriere. Um die Welt reisen. Ach-so-wichtige Meetings, Netzwerke und Kontakte. Alles war wichtig. Gewesen.
Irgendwie hatte dieser kleine strahlende Vogel in sein Nest gefunden. Er konnte ihn aufpäppeln, ihm Kraft geben. Doch ihn für immer hierzubehalten, ihn zu verpflichten, ihn mit Dingen zu belasten: Er brachte es nicht über das Herz. So strahlend dem Leben zu begegnen, so neugierig auf das Leben sein, das ging nur als freier Mensch, der sich immer wieder selbst erprobte, sich herausforderte, sich in neue Situationen begab, sich arrangierte, sich weiterentwickelte. Ja, sie hatte noch einiges vor sich. Dieser jungen Frau stand eine Entwicklung bevor, der er sich nicht in den Weg stellen wollte. Was wollte sie mit ihm hier oben langfristig tun? Was für ein Leben fristen? Lesen und Schach spielen? Sich um einen bald schon alten Mann kümmern? Auf den See sehen?
Sie sah in ihm ihre Zukunft. Er sah in ihr seine Vergangenheit.
Unmöglich konnte er sich von ihr um den kleinen Finger wickeln lassen, sie nicht – wie von ihr gewünscht – in sein Leben verwickeln. Er hatte eine Verpflichtung ihr gegenüber: ihre Entwicklung nicht im Keim zu ersticken.
Er sah sie wieder an. Nein, im Keim erstickt war sie wahrlich nicht. Sie blühte, für jeden sichtbar. Ihre stilvolle Schönheit war für viele ein Wunder. Und jeder wunderte sich, was sie bei ihm, dem Alten, machte. Er bewunderte sie, und das war eben der Grund, warum er sie, ihren Stil, nicht brechen wollte, sie nicht festbinden am Gartenzaun.
„Flieg, mein Vogel“ dachte er bei sich.
Sie heiraten, sie einfangen, das würde er nicht. Er wollte es nicht. Für sie.
(aus Corie Fee „Taktgefühl: Nicht wollen wollen.“, 2024, BoD)
Corie Fee heißt eigentlich Corinna Benezé und hat 2024 mit dem Schreiben von Kurzgeschichten und Gedichten begonnen. Unter verschiedenartigen Pseudonymen geht sie ihren kreativen Ideen nach, probiert (sich) aus und lernt Neues – was ihrer Tätigkeit als Texterin zugutekommt. Ebenfalls aus den Erfahrungen hervorgegangen sind die zwei Schreibratgeber „Buchtipp: Buch tippen“ und „Schreiberfolg: Erfolge beschreiben“. Geboren in Hamburg, lebt sie seit 2012 in ihrer Wahlheimat Freiburg, am Rande des Schwarzwalds – und mittendrin in der hellen, inspirierten, zugänglichen Welt des Schreibens.
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